Die Brüder Karamasow


(Eine Betrachtung)

Teil 2

 

An einem der ersten gemeinsamen Abende fragt der betrunkene Vater Iwan, ob es einen Gott gäbe. Dieser verneint. Iwan gegenüber sitzt Aljoscha, der die gleiche Frage gestellt bekommt. Er sagt, es gibt einen Gott. Für Iwan aber ist der Mensch nur darum gläubig und handelt moralisch, weil er an die Unsterblichkeit glaubt. Als der Vater nun fragt, ob es diese für ihn gibt, so verneint Iwan erneut, während Aljoscha sie bestätigt.

Bereits der Staretz Sossima sah in Iwans Augen den Kampf mit sich selbst und sagte ihm, wenn die Frage nicht im positiven Sinne gelöst werden kann, so könne sie auch nicht im negativen gelöst werden. Er wusste, dass diese Unsterblichkeit für Iwan nicht mehr existiert und dass darum für ihn „alles erlaubt“ ist.

Dimitrij, der Sohn aus erster Ehe, Ivan und Alexei, die Söhne aus zweiter Ehe, teilen alle ein gemeinsames Schicksal: sie sind von einem ausschweifend lebenden, schmarotzenden Vater und werden gleich nach ihrer Geburt von ihm vergessen. Dimitrij wird sogar von zwei oder mehreren Menschen als Kind verlassen, so dass er den Charakter eines Waisenkindes annimmt, der oberflächlich und ohne Ehrgeiz aufwächst, Soldat wird und bald seinen Vater auf sein ihm zustehendes mütterliches Erbe anspricht, das dieser ihm verweigert. Die beiden anderen Söhne sind zwar beide von der gleichen Mutter, unterscheiden sich allerdings stark in ihren Charakteren. Während Ivan früh Talent und Intelligenz zeigt, verschiedene Artikel schreibt und Aufsehen erregt, fühlt sich Aljoscha als eine sanfte Natur zum Glauben hingezogen. Beide werden gut erzogen, geraten unter die Obhut eines Menschen, der sich um sie kümmert, während Dimitrij von Hand zu Hand gereicht wird. Dies ist sehr prägend für alle Charaktere, die so grundverschieden sind.

 

Dostojewski erwähnt nur Alexei in seinem Vorwort, spricht von ihm als Sonderling, der „das Mark des Ganzen in sich trägt, während sich die übrigen Menschen seiner Epoche alle aus einem unbekannten Grunde, gleichsam durch einen irgendwoher herüberwehenden Wind, zeitweilig vom Mark losgerissen haben“.
Dieser ist also sein eigentlicher Held, während Iwan Karamasow als Zweifler gleichberechtigt neben dem „guten Menschen“ steht, wenn er auch ein ganz anderes, nämlich stolzes Wesen in sich trägt, das dazu noch die Welt anzweifelt. Auch Dimitrij ist stolz, jedoch in ganz anderem Sinne. Sein Stolz beschränkt sich darauf, wie er auf die anderen Menschen wirkt und wie er unter ihnen als einzigartig auffallen kann. Dazu dienen ihm die verschiedensten Mittel, die sich zumeist durch Pöbelei oder Geldverschwendung ausdrücken, während er im Grunde ein liebenswerter Mensch ist. Sein Stolz zerbricht an der Weiblichkeit und am Mammon. Die Ehre, die er verteidigt – „Ich bin ein Schuft, aber kein Dieb“ -, basiert auf materiellen Schulden, die die moralischen Schulden überdecken sollen. Mit Katharina treibt er ein Spiel, in Gruschenka verliebt er sich tatsächlich und reift durch sie und ihre später erwiderte Liebe. Erst hier kehrt sich der gute Kern seines Wesens um und gegen den äußerlichen Stolz, der ihn zu Lärm und Aufschneiderei verführte.

 

Aljoscha ist kein Mystiker oder religiöser Fanatiker. Vielmehr ist er ein jugendlicher Menschenfreund, der ins Kloster geht, weil das Klosterleben und der Staretz Sossima einen tiefen Eindruck auf ihn machen. Der Weg ins Kloster erscheint ihm „als das Ideal eines Auswegs für seine aus dem Dunkel des Bösen dieser Welt zum Licht der Liebe strebenden Seele“.

Auch zieht es ihn, ähnlich wie Fürst Myschkin in „Der Idiot“ zu den Kindern, für die er sich verantwortlich fühlt. Diese treten als eine Art Nebengeschichte im  Handlungsstrang auf, denn sie sind die Kinder, die die Schuld ihrer Väter übernehmen, von der auch Iwan in „Der Großinquisitor“ spricht, während er sie als unschuldig bezeichnet. Später (und in meinen Gedanken dann unten, bei der Rede des Verteidigers…) wird noch einmal intensiver auf diese Schuld eingegangen.

 

Für die Suche nach Wahrheit und Unsterblichkeit gibt Aljoscha sein Studium auf und reist zurück zu seinem Vater, um dann Novize zu werden. Er handelt hier gegen die Regel und Vernunft junger Menschen, die das Opfer nicht bringen wollen, für die Suche nach Wahrheit Jahre hinzugeben, die ihnen beim Erfolg und Weiterkommen hilfreich sind. Aljoscha denkt anders und handelt nach seinem Gefühl.

 

Es steht geschrieben: „Verteile dein Gut und folge mir nach, wenn du vollkommen sein willst.“ Und so sagte sich denn auch Aljoscha: „Ich kann doch nicht an Stelle meines ganzen Gutes nur zwei Rubel geben, und anstatt des „folge mir nach“ nur zu Frühmesse gehen!“

 

Auch wenn Aljoscha stark dem Charakter Myschkins gleicht (wobei Aljoscha gegen diesen dann doch eher blaß erscheint, denn an den wunderschönen „Idioten“ reicht keine Figur ähnlichen Charakters heran), ist er keine Wiederholung dessen, weshalb auch die Reaktionen auf ihn völlig anders sind. Aljoscha liebt die Menschen und sie lieben ihn gleichfalls:

 

… er glaubte an sie anscheinend sein ganzes Leben lang, und trotzdem hielt ihn niemand jemals für beschränkt oder naiv.

 

(...) Es war etwas in ihm, was ihm die Menschen zu richten verbot und ihm immer zuflüsterte, dass er nicht der Richter der Menschen sein, nicht das Verurteilen auf sich nehmen wolle und darum auch um nichts in der Welt verurteilen werde.

 

(Ein Nebengedanke dazu: Wenn häufig Aggressionen nur aufgrund von Unsicherheit aufkommen, insbesondere gegenüber Menschen, die man nicht kennt oder nach eigen verfälschter Ansicht zu kennen glaubt, weil man im Akt der Unsicherheit voraussetzt, er könnte falsch sein, hinterlistig oder ironisch, so kann ein Mensch, der offensichtlich zu durchschauen und von heiterem, ruhendem Gemüt ist, bei dem also zu erkennen ist, dass er nichts Mürrisches oder Gemeines in sich trägt, tatsächlich Liebe auslösen, insofern die Menschen gewillt sind, ganz und gar auf ihn zu blicken und nicht so flüchtig, wie sie es zumeist tun.)

 

Im Gegensatz zu Myschkin, ist Aljoschas Herz ein Kampfplatz von Gut und Böse. Er kann durchaus Zweifel am Sein haben, kennt die Leidenschaften und ist auch zu Zorn fähig. Er geht darum ins Kloster und beugt sich diesem Leben zunächst, weil er die andere Seite in sich fürchtet, den typisch karamasow'schen (also ausschweifenden) Zug. Er weiß, dass etwas in ihm lauert, auch scheint er allgemein Leidenschaft in sich zu tragen, wenn er Partei für Dimitrij, Iwan oder andere ergreift, was Myschkin überhaupt nicht konnte, da er immer das Gute im Menschen voraussetzte und unabänderlich daran glaubte. Myschkin ist viel eher der „Buddhist“ als Aljoscha, da dieser keinerlei Leidenschaft in sich trägt, das Leben und die Menschen nur beobachtet, ihnen in tiefem Mitgefühl begegnet. Aljoscha, selbst von sehr liebenswertem und ruhigem, wenn auch nicht krankem Wesen (denn Myschkin leidet ja an der Fallsucht), ist noch unfertig, muss sich noch selbst finden. Myschkin steht bereits auf sicheren Beinen. Er weiß, wer er ist und wie er die Welt sieht. Er ist passiv, sucht nichts und will nichts erreichen.

Aljoscha wirkt auf den Leser häufig wie ein Magnet oder Spiegel, in dem der in und auf ihn blickende Mensch sich selbst erkennen möchte und beginnt, sein Sein zu hinterfragen. Dimitrij entbrennt in großer, brüderlicher Liebe zu ihm, Iwan offenbart sich ihm, selbst der trunksüchtige Vater bricht in Tränen aus und will ihn küssen. Die weiblichen Figuren bestehen auf seinen Besuch, um sich dann völlig anders zu zeigen, als vorgesehen. Hier bricht die Eitelkeit entzwei und darunter hervor, durch Aljoschas gutes Wesen ausgelöst, stürmt das wahre Ich hinaus, zeigt sich von der nackten, manchmal auch hässlichen Seite.

 

Es gibt den Verdacht in der literarischen Forschung, dass der Roman nicht vollendet wäre. Das könnte natürlich erklären, warum die eigentliche Hauptfigur, die Dostojewski vorgesehen hat, nicht klar auszumachen ist, denn neben Aljoscha tritt auch Iwan in seinen Überzeugungen klar und deutlich in den Vordergrund. Dostojewski hat die Kapitel so geschrieben, dass sie veröffentlicht werden konnten, das heißt, sie stehen für sich und abgerundet. Das Ende scheint tatsächlich ein Hinweis darauf zu sein, wenn es auch, gerade in der heutigen Deutung, hervorragend das Werk vollendet.
Aljoscha, der sich selbst finden muss, dieser Spiegel, der aber auch erkennen muss, wie er in der Welt wirken kann, hätte, z. B. laut Rosanow, noch zur vollen Größe gefunden. Aber ich finde, Aljoscha, als die Ahnung all dessen, was kommen mag, als die unfertige Persönlichkeit, die trotzdem auf den Menschen eine derartige Wirkung hat, ist bereits vollendet, dadurch sehr lebendig und tritt in meinen Augen auch genau so auf, wie es nicht besser hätte sein können.
Sollte Dostojewski tatsächlich noch weitere Teile geplant haben, so tut es dem Roman keinerlei Abbruch, ganz im Gegenteil. Das Ende richtet sich an den Leser und die Menschen und fordert Liebe für Mensch und Leben, mahnt daran, dass ein Augenblick als schöne Erinnerung Momente trauriger oder schlimmer Umstände klären und aufheitern kann. Die Erinnerung hält vielleicht von Schlimmerem ab, dass ein Mensch sich in seinem Zorn verliert, verbittert oder die Welt aufgrund tragischer Erfahrungen komplett verflucht. Zu sehen: so war ich einst und da war ich glücklich – genügt, einem Menschen zu zeigen, dass es auch andere Augenblicke gibt, das Leben nicht nur seine hässlichen, sondern in so vielen Dingen auch seine schönen Seiten hat.