Die Brüder Karamasow


(Eine Betrachtung)

Teil 3



 

Die ewige Dualität der Figuren, des Seins, des Menschen selbst, die auch Dostojewski hervorragend kannte, tritt auch durch Kapitel wie Pro und Contra hervor oder kommt in der Rede des Staatsanwalts gegen den Verteidiger zu Geltung, die beide einen Menschen in ein Licht rücken, das mit den eigentlichen Tatsachen wenig zu tun hat, die aber durch ihre genaue Schilderung durchaus zutreffen könnten.
Die Bejahung und Verneinung des Lebens, die menschlichen und doppelten Abgründe und die Erkenntnisse bishin zur Erleuchtung sind alle in den zwei Seiten der Medaille enthalten, die Dostojewski dem Leser vor die Nase hält und vor seinen Augen zum Drehen bringt, dass nichts mehr nur einseitig erscheint, auch nicht zweiseitig, sondern als verschwommenes Ganzes unendlicher Möglichkeiten.

 

Sein von ihm angebeteter Staretz Sossima soll, laut Dostojewski, eine positive heilige Figur sein. Diese Betonung in einem seiner Briefe an Maikow als doppelte Unterstreichung des Wortes „positiv“ spricht Bände, so scheint Dostojewski Zweifel an den Repräsentanten Gottes gehabt zu haben.

Aus seiner Biographie weiß man, dass er 1878 im berühmten Kloster „Optina Pustyn“ gewesen ist, wo „Vater Ambrosius“ als Staretz über Tausende von Leuten wachte, was Dostojewski sehr beeindruckt und aus dem er wohl manch wertvollen Zug für seine positive Figur gewonnen hat. Auch konnte nicht die Hauptfigur (hier also Aljoscha) jene positive Gestalt werden, warum sich Dostojewski auf Sossima besinnt, den er aber nur als führende Hand für Aljoscha kreiert, bis dieser stirbt.

Den Staretz Sossima, oder allgemein die Aufgabe eines Staretz, zu dem Menschen aus dem ganzen Lande pilgern, beschreibt Dostojewski wie folgt:

 

Der Staretz ist ein Mönch, der eines Menschen Seele und Willen in seine Seele und seinen Willen aufnimmt. Wenn man einen Staretz gewählt hat, sagt man sich vom eigenen Willen los und übergibt ihn dem Staretz zu unbedingtem Gehorsam bei vollständiger Selbstverleugnung. Diese Prüfung, diese furchtbare Lebensüberwindung nimmt der sich dem Staretz Ergebene freiwillig auf sich: in der Hoffnung, nach langer Prüfung sich selbst überwinden zu können, sich seiner selbst dermaßen zu bemächtigen, dass er endlich durch lebenslänglichen Gehorsam die volle Freiheit erlange – das heißt, um sich von sich selbst zu befreien, auf dass er dem Los derer entgehe, die das ganze Leben verleben und doch ewig ihr eigener Knecht bleiben.

 

Wie im Buddhismus, soll der Mensch sich also einen Meister suchen und sein Ich überwinden, der Illusion „Welt“ entsagen und die volle Freiheit erlangen (jedoch bereits im Hier und Jetzt).
Auch die Einrichtung des Startzentum wurde im Osten und in der dort angewendeten Praxis geboren. Der Staretz verfügt über eine sehr große Macht über den Mönch, der ihm Gehorsam versprochen hat, warum das Startzentum in vielen Klöstern auch Feindseligkeit ausgelöst hat. Vom Volk wurden diese Menschen geachtet und verehrt. So ist das Startzentum ein zweischneidiges Schwert, dient der sittlichen Auferstehung des Menschen „von der Sklaverei zur Freiheit und zur moralischen Vervollkommnung“, kann aber auch, statt zur Demut und endgültigen Selbstüberwindung, zu „satanischem Stolz, also zu Ketten, nicht zur Freiheit“ führen.

 
2.

Alle drei Söhne lernen sich nun kennen, als sie in das Haus ihres Vaters zurückkehren. Der Streit um das Geld, das den Söhnen rechtsmäßig zusteht, sät sofort Unstimmigkeiten, die ausgerechnet beim Staretz Sosima geklärt werden sollen. Sosima lächelt Aljoscha an und sagt: „Wer hat mich berufen, ihr Schiedsrichter zu sein?“

Beim Treffen mit dem herrlichen Sosima, der krank und schwach ist, sich aber trotzdem bemüht, den Menschen zu helfen und sie zu segnen, gelangt eine andere Geschichte ans Licht.
Dimitrij ist mit einer Adligen verlobt, der schönen Katharina Iwanowna, hat sich aber in Gruschenka verliebt, die einst die Mätresse eines Obersts war und ein (in den Augen der Leute) verruchtes Leben führt.
Der alte Vater Karamasow macht ihr gleichsam den Hof, während Iwan Karamasow Dimitrij die Braut ausspannen will. Dies ist der eigentliche Konflikt, der in der Familie herrscht, und Aljoscha erkennt dies alles mit Schrecken.
Auch findet bei dem Treffen im Kloster eine außergewöhnliche Situation statt, dass der Staretz sich ausgerechnet vor Dimitrij bis zum Boden verbeugt. Man wittert hier die Vorhersehung eines Verbrechens.

 

Ein vierter Charakter zeigt sich in dem Diener Smerdjakow, der wahrscheinlich ein uneheliches Kind des alten Karamasows ist, wobei die Mutter die „Stinkende“ genannt wird. Sie ist geistig krank und zurückgeblieben und wird darum von allen als heiliges Geschöpf betrachtet. Bei der Geburt des Kindes stirbt sie. An diesem Akt zeigt sich auch die ganze Niedrigkeit des alten Karamasows, der damit prahlt, auch hässliche und „tierische“ Weiber zu begehren.

 


Die beiden weiblichen Figuren – Katharina Iwanonwna und Gruschenka – sind beide von stolzem Wesen, jedoch auf unterschiedliche Art und Weise. Katharina möchte bestimmen und die Menschen kontrollieren. Sie geht sogar so weit, dass sie ihr eigenes Leben opfert, um Macht über ein anderes zu gewinnen, sich freiwillig zu unterwerfen, um in ihrer Rolle ganz und gar aufzugehen, was nichts anderes als Selbstliebe zu sein scheint. Das, was sie als Liebe bezeichnet, ist in Wahrheit nur die eitle Vorstellung ihrer eigenen geschenkten Zuneigung, die sie gnädig darreicht. Trotzdem ist sie auch sehr großmütig und von geradezu mildtätig handelndem Wesen. Sie kann verzeihen, weil auch das Verzeihen ihrem Wesen Schönheit verleiht.
Dimitrij liebt sie nicht wirklich. Alleine ihre Bekanntschaft baut auf einer Lüge auf und die Verlobung kommt nur aufgrund seines Schuldgefühls zustande. Ab und an hat der Leser durchaus den Verdacht, es könnten wirkliche Gefühle für sie im Spiel sein, denn er hält sich für nicht gut genug für sie. Man könnte also annehmen, er möchte sich selbst bestrafen, indem er zu der im schlechten Ruf stehenden Gruschenka wechselt. Tatsächlich liebt er diese aber von Herzen und schon gar nicht aus Mitleid oder Selbstbestrafung.

Dagegen ist Iwans Liebe für Katharina echt, die sich seiner gefühlskalt bedient. Vielleicht weiß sie nicht, dass sie ihn liebt, entspricht sein Charakter ihrem eigenen. Sie könnte also niemals über ihn herrschen, wie es bei seinem Bruder durchaus der Fall wäre.

Das zweigeteilte Wesen, die Großmütigkeit und der Zorn auf Dimitrij zeigen diesem jedoch durch die Gerichtsszene, wie sehr er sie tatsächlich verletzt hat. Anhand ihres „ans Messer liefern“ erkennt er seine Schuld und ihre tiefe Gekränktheit.

 

Gruschenka ist von einfacherer Wesensart, verspielt, hin und wieder gemein. Sie leidet an einer Liebe zu einem Offizier, der sie einst sitzen ließ und macht sich einen Spaß aus den Gefühlen der Männer, die um sie buhlen. Wo man als Leser zunächst noch annimmt, die Wahl zwischen dem alten Karamasow und Dimitrij würde durch das getroffen werden, was ihr die Männer bieten, stellt sich der Charakter dieser Frau als völlig anders heraus. Sie zeigt sich am Ende als eine feine, sinnliche und zur Aufopferung bereite Frau.

 

Ein weiteres weibliches Wesen drängt sich in eine Nebenrolle und ist sehr schwer zu durchschauen. Hierbei handelt es sich um die zunächst gelähmte, dann geheilte und häufig unsicher kichernde, gleichzeitig, durch ihre Krankheit, leicht herrische Lisa, die mit Aljoscha aufgewachsen und sich in ihn verliebt hat. Sie verändert ihr Wesen später sehr stark und gibt vor, das Verbrechen zu lieben, sagt sogar, dass die Menschen immer das Verbrechen lieben, was, könnte man weiter deuten, die Schaulust erklärt.
Sie will bösartig sein, will ein Haus anzünden, will leiden und gequält werden, sie bietet sich Iwan an, der sie wohl mit seinen Ansichten beeindruckt und ihre verborgene Gefühlswelt explosiv nach außen gekehrt hat.
Wenn sie mit Aljoscha spricht und angibt, sie könne nur ihm alles sagen, so könnte man hier die Beichte hineindeuten, in der alles, selbst die geheimsten Gedanken und Träume offenbart werden, für die sich Lisa so sehr schämt, dass sie beschließt, den Inhalt solcher Gedanken hinauszuschreien und als wahr und gut anzuerkennen.
Sie verkörpert den Lebensekel, als ein Mensch, der vor sich selbst erschrickt und vor all dem, was in ihm lauert und herausbrechen könnte. Auch verkörpert sie die nihilistische Wirkung unter dem Einfluss einer "Idee". Das Wunder ihrer Heilung reinigt sie nicht, stattdessen hasst sie und ist von ihrer Wut überwältigt, muss damit, wie auch andere Gestalten Dostojewskis, die sich diesem Weg verschrieben haben, unweigerlich der Selbstzerstörung zum Opfer fallen.
Der Staretz Sossima trägt Aljoscha auf, nach seinem Tod das Kloster zu verlassen und in die Welt zu gehen, zu heiraten und dort zu wirken, was Aljoscha bedingungslos befolgt. Lisa ist die Auserwählte, die er zu heiraten beabsichtigt.

 

Smerdjakow ist ein schmieriger und eitler Mensch, obwohl er Bediensteter im Hause Karamasow ist. Er aber empfindet sich für höher stehend und fühlt sich den meisten Menschen überlegen, wobei es ihm an Bildung fehlt. Er vergöttert Iwan aufgrund seines Verstandes und seiner Moral, die enthält: Alles ist erlaubt! Smerdjakow wirkt wie eine Karikatur, wenn er übertrieben ängstlich ist oder in Tränen ausbricht, weil „eine schwache Person geschlagen wurde“, nämlich er selbst, und dann zu seinem „blaukarierten, gänzlich vollgeschnaubten Schnupftuch greift“ und sich in tiefes Weinen versenkt, was eine gute Weile dauert.  „Jeder Zug seines runzligen Gesichts drückte die soeben erlittene Kränkung aus.“
Auch spricht er „alleweil“ eine übertrieben unterwürfige, dann wieder ins Nichts dozierende Sprache.

 

Im Gegensatz zu den „Dämonen“ sind hier nicht die Gespräche der Figuren die lenkende Richtung des Romans, sondern vielmehr die Stimme des Erzählers, der durch so manche Übertreibung das ganze auch zur Parodie oder tragischen Komödie gestaltet. Er nimmt den Leser bei der Hand und erzählt ihm nach und nach, was in „unserem Städtchen“ an Unglück geschehen ist, wobei er auch vieles vorwegnimmt.
Das Städtchen stellt sich nachher als Skotoprigonjewsk heraus, was eher eine scherzhafte Ortsbezeichnung wie „Rindspferchening“ ist. Anna Grigorjewna und Dostojewskis Tochter gaben später an, dass das „Städtchen“ Staraja Russa war, wo Dostojewski häufiger gelebt hat. Auch die Villa der Karamasows sei dem Haus ähnlich, das Dostojewski bewohnt hat.

Um all das also zu beschreiben, dafür muss der Erzähler weit ausholen und die Familie Karamasow einkreisen, nebst wichtiger Nebenfiguren und Ereignisse, aus denen die Charaktere hervorgegangen und sich vielleicht neu geprägt haben.
An manchen Stellen erscheint das fahrige Wesen des Erzählers (durch das der Geist Dostojewskis dringt) fast schon verwirrt und hin- und hergerissen. Man trifft auf Stellen, in denen vorangekündigt wird, dass etwas geschehen, dass eine Reaktion noch auf etwas Bestimmtes hinausführen, dass eine Figur sich noch anders besinnen wird. Man fühlt sich tatsächlich durch den Erzähler mitgerissen, manchmal stolpernd, dann wieder mitten in eine intensive und dadurch langsamer gestaltete Szene geworfen.

All das wirkt wie eine Kombination aus Erzählerstimme, Zeugenaussagen und dem Geschehen an sich.

 
3.

Das eigentliche Verbrechen in diesem Roman ist der Tod des alten Karamasow, der in seinem Haus für die erkaufte Liebe von Gruschenka dreitausend Rubel bereit hielt. Hier gerät der Leser mitten in das Geschehen, wenn auch nicht der Mord ihm vor die Nase gehalten wird, sondern lediglich Dimitrij, der sich durch den Garten an das Haus des Vaters heranschleicht.

Dostojewski hat hier ganze psychologische Arbeit geleistet, indem er alle vier wichtigen  Charaktere in ihre Form gefasst hat. Iwan ist der mit der Idee, Aljoscha der „Schutzengel“, Dimitrij der Unberechenbare, der für seine Leidenschaft und Liebe zu Gruschenka alles tut. Smerdjakow ist der schleichende Schatten um die Brüder herum, den man sich hinter ihren gebeugten Rücken als größer werdendes schwarzes Ungeheuer vorstellen kann, das die Krallen ausstreckt, um dann schnell wieder zurückzuzucken. Sein Gespräch mit Iwan Karamasow ist der Anlass, warum alles kommt, wie es kommt, da er glaubt, ihn dazu bewegt zu haben, abzufahren, während sie alle ahnen, dass etwas Schreckliches geschehen wird. Smerdjakow hält Iwans Einwilligung in die Abreise für sein Einverständnis.

 
Zurück zur Fensterszene im Garten, wo sich der alte Karamasow in seiner ganzen Hässlichkeit hinausbeugt, um nach seiner ersehnten Gruschenka Ausschau zu halten:

Nachdem Dimitrij Karamasow durch den Garten flüchtet und noch den Diener zu Boden schlägt und annimmt, er hätte ihn getötet, taucht er aus einem benommenen verwirrten Zustand in einen Zustand der puren Euphorie.
Er will das Leben feiern, will Gruschenka, die ihrem Offizier nachgereist ist, der sie "zurücknehmen" will, alles Gute wünschen.
Ab hier wird alles verwirrend und unüberschaubar, denn bei der Verhaftung gibt Karamasow zwar an, er hätte den Diener erschlagen, niemals aber den Vater.

 

Dimitrij reist also seiner Gruschenka nach, deren einstige Liebe sich als hässlich entpuppt, warum sie Dimitrij wieder in ihr Herz schließt und zugibt, ihn gequält zu haben, weil sie sich selbst gequält hat.
Dieser läuft mit blutverschmierten Händen herum und wirft mit Geld um sich, wirkt dadurch schuldig, während der Leser weiß, dass das Blut in erster Linie vom Diener stammt. Gleichfalls ist das Geld verdächtig, das er zuvor nicht hatte. Dimitrij wird verhaftet.

 

Wenn man nun denkt, hier würde die Spannung schon unerträglich sein, so muss man feststellen, dass die eigentliche Spannung erst mit der Rückkehr Iwans eintritt, der in gewisser Art und Weise sich selbst begegnet und auch seine eigene Schuld zu hinterfragen beginnt.

Dostojewski jongliert mit seinen Charakteren, und der Leser ist mit seinen Ahnungen und Deutungen hin- und hergerissen, tendiert zu Verdacht und Verwerfen und wenn er sich sicher fühlt, wird er aufs Neue eines Besseren belehrt und wieder in das Verwirrspiel gestoßen.
Im Grunde weiß man, wer der Schuldige ist, aber man wird auch immer wieder in seiner Sicherheit irritiert. Alleine die Charaktere der Figuren ermöglichen, dass der Leser psychologisch einschätzt und richtig entscheidet. Aber um den einen Schuldigen geht es eigentlich auch gar nicht.

  

Im Grunde sind sie tatsächlich im gesamten Zusammenspiel aller Umstände alle miteinander schuldig, was die oben bereits erwähnte Aussage des Staretz Sossima untermalt.
Dimitrij mit seiner Wut, auf die Smerdjakow gerechnet hat und ohne die er seine Tat niemals vollführt hätte, Smerdjakow, der die eigene Existenz nicht verkraftet, und auch Iwan, der ihm zunächst das „Alles ist erlaubt!“ in den halbgebildeten Schädel setzt, der fährt, obwohl er etwas ahnt, der die Wahrheit hinausschiebt, aber vor allen Dingen, der Smerdjakow aus tiefster Seele verachtet.
Smerdjakow geht es am Ende gar nicht so sehr um das Geld (das er später dann auch ausdruckslos Iwan über den Tisch reicht), ihm geht es hauptsächlich um Rache an dieser Familie, die ihn aus dem eigenen Kreis hinausstieß. Bezeichnend ist dabei auch, dass sowohl Dimitrij als auch Smerdjakow auf verschiedene Weise das gleiche, harte Los durchmachten, aus dem sie unterschiedlich hervorgingen. Beide wuchsen zunächst beim alten Diener auf, den Dimitirj niederschlägt, der das Ganze allerdings überlebt. Während sich bei Dimitrij ein herrischer, selbstgefälliger, zorniger Charakter entwickelt hat, der aber im Herzen trotzdem gut und edel ist und Werte hat, die er durch sein ungestümes Wesen  immer wieder neu über den Haufen wirft, so ist Smerdjakow von unterwürfiger Art, wenn auch stolz und neugierig.
Seine Rache ist eben jenes Unterschätzen seiner Klugheit, die Verachtung, die Iwan ihm entgegenbringt (er sei doch mehr Mücke als Mensch), die er nutzt und mit dem Selbstmord als krönenden Abschluss vervollkommnend (denn auch dieser ist ja dann unbedingt erlaubt), um die gesamte Familie Karamasow mit einem Schlag zu vernichten, nur weil er mit ihnen nie auf ein und derselben Stufe stehen durfte.

In diesem Sinne hat Smerdjakow absolut teuflisch und unmenschlich gehandelt und ist damit nicht nur "Werkzeug" Iwans, sondern erhebt sich selbst, geschmückt durch ein ausgeklügeltes Verbrechen, an dem er dann auch zugrunde geht. Sein Charakter hatte nie die Möglichkeit, sich zu formen, so gestaltete er sich nach eigenem Ermessen. „Unter Bildung verstand er gute Kleider, reine Vorhemden und gewichste Stiefel.“ Auch drehte er sich die Haare auf vornehme Art, obwohl er nur ein Lakai, ein Suppenkoch war. Er verkörpert das Endergebnis eines gottlosen Menschen, dem nichts mehr heilig ist, nicht einmal das eigene Leben.

 
4.

Durch das ganze Schauspiel samt der zwei Katastrophen – einmal der Mord und zum anderen die Beweislast gegen einen Unschuldigen – zeigt Dostojewski in seinen Figuren, insbesondere aber in Iwan, dass ein Mensch, der Gott entsagt und die Welt nicht akzeptiert, sondern an eine Idee glaubt, an ein Konstrukt, sich unweigerlich selbst verlieren muss und unter der Last der eigenen Verantwortung, die Kaltblütigkeit wird (der Mensch kann in Dostojewskis Augen nicht den Menschen lieben, wenn er Gott nicht voraussetzt und in dessen Sinne handelt), unter seinen Gedanken und verwirrten Zweifeln (die nicht ausbleiben können, wenn er beständig die Welt ohne Gott hinterfragt, also kein Vertrauen in den Verlauf der Dinge hat), kurz der den Halt verliert, notgedrungen zusammenbrechen muss.

Iwan verliert den Verstand. Sein Schuldgefühl, die inneren Konflikte durch den Verlust seines Glaubens, der nicht mehr weiß, wer er ist, sondern sich selbst als Teufelhalluzination kreiert, damit dieses böse Wesen ( - du bist ja nur meine hässliche und dumme Seite -) ihn in aller Form anklagt.
Und selbst Dimitrij wird geläutert und findet Gott und damit sich selbst und nimmt alle Schuld auf sich, um das Leid in der Welt durch seine Mitverantwortung - wir alle sind schuldig für alles – damit zu verringern.

Für Dostojewski ist dieser Menschengott eine Möglichkeit, die aber nicht funktioniert, will man Gott ganz und gar durch den Menschen ersetzen. Ihn ängstigt die Lücke, die daraufhin folgt, in der der Mensch ein „Alles ist erlaubt!“ anstrebt und sich über gewisse moralische Grundvoraussetzungen notgedrungen hinwegsetzen wird. Auch Iwan, der sich selbst bekämpft und, was noch wichtiger ist, letztendlich besiegt, so dass er, wenn er den Teufel für wirklich hält, auch automatisch Gott nicht ausschließen kann, scheitert nur daran, dass er an der Welt verzweifelt, weil seine "Idee" ihm letztendlich keinen Halt gibt. Aljoscha ist der einzige Karamasow (obwohl Karamasow), der seinen Weg findet und diesen mit Seelenruhe weitergeht. Er erkennt in den Kindern eine Zukunft, die nicht zum Untergang verurteilt ist, wenn ihnen die richtige Führung gewiesen wird.
 

 Ach, meine Kindlein, ach, meine lieben Freunde, habt keine Angst vor dem Leben! Wie schön ist das Leben, wenn man etwas Gutes und Richtiges tut!



5.

Was an diesem Roman besonders beeindruckt, ist die dreifache Auslegung des Mordes durch den neutralen Umstand der Ereignisse, durch die psychologisch ausgeklügelte Auslegung des Staatsanwalts und die nicht weniger geschickte Deutung des Verteidigers. Dostojewski umkreist das Verbrechen also mehrfach und aus völlig verschiedenen Blickwinkeln, was dessen Begabung für die psychologischen Abgründe des Menschen hervortreten lässt. Alle Blickwinkel sind ausführlich, tief und voller Beweiskraft. Das ist nahezu genial.

 
Um noch einmal auf die Schuld zurückzukommen, die im "Großinquisitor" den Kindern durch ihre Väter überantwortet wird, weiß der Verteidiger Dimitrijs sich glänzend durchzusetzen, da er die Bedrohung "Vatermord" aufs Korn nimmt.

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Dostojewski auf jene Väter hinweisen will, die ihre Kinder quälen und sich selbst überlassen, zu zeigen, was ihnen durch einen ungestümen Charakter blühen könnte, der sich nur aus dieser Nicht-Liebe bilden konnte und anderer unglücklicher Umstände.
„Die Liebe zum Vater ist, wenn der Vater sie nicht rechtfertigt, eine Albernheit, eine Unmöglichkeit.“

Die Schuldfrage, die zu stellen ist, die solche Grundgedanken enthält, wie: Wer ist verantwortlich für den Verbrecher? Die Erziehung, die Gesellschaft, jeder Mensch? Und rechtfertigt eine vermurkste Kindheit das spätere Verbrechen oder die verkorkste Persönlichkeit eines Menschen? – ist eine Sache, um wie der Apostel auszurufen: „Väter, betrübet nicht eure Kinder!“
 

… erfüllen wir zuerst selbst das Gebot Christi, und dann erst lasst uns auch von unseren Kindern die Erfüllung der Gebote verlangen! Anderenfalls sind wir nicht die Väter, sondern die Feinde unserer Kinder, und auch sie sind dann nicht“unsere Kinder, sondern unsere Feinde, und wir selbst machen sie zu unseren Feinden! „Mit welchem Maße ihr messet, wird euch wiedergemessen werden.“

Um diese Gedanken zu untermalen, hat Dostojewski auch die Geschichte mit dem jungen und kranken Kind Iljuscha eingefügt, das nicht verkraften kann, dass sein Vater von Dimitrij so beleidigt und erniedrigt worden ist, obwohl es für seinen Vater um Gnade gebeten hat.
 

„Der Anblick eines unwürdigen Vaters, besonders im Vergleich mit anderen, würdigen Vätern seiner Altergenossen, veranlasst den Jüngling unwillkürlich zum Nachdenken und gibt ihm unwillkürlich qualvolle Fragen ein.“

Gleichzeitig aber wird dieser Eindruck durch einen anderen überdeckt, dass Dostojewski fest daran glaubt, dass ein Mensch, dem das Schicksal von Kindheit an übel mitspielt, trotz allem ein guter Mensch werden kann, der edle Gefühle und Werte in sich trägt, dankbar ist… „für eine Handvoll Nüsse“.
 

 „Alle ihre Leidenschaften sind, im Gegenteil, schnell gestillt, aber in der Nähe eines edlen, schönen Wesens sucht dieser anscheinend rohe und grausame Mensch Selbsterneuerung, sucht er die Möglichkeit, sich zu bessern, gut zu werden, ehrlich und edel, oder „schön und erhaben“, wie sehr dieses Wort auch verspottet werden mag.“

 

Der Ratschlag des Verteidigers an die Geschworenen ist: Erschüttern Sie den Angeklagten durch Ihre Barmherzigkeit. Nehmen Sie ihm durch ein schweres Urteil nicht die Möglichkeit, noch ein Mensch zu werden.

 

Es gibt Seelen, die in ihrer Beschränktheit die ganze Welt anklagen. Doch erschüttern Sie diese Seele mit Ihrer Barmherzigkeit, erweisen Sie ihr nur einmal im Leben Liebe, und sie wird ihre Tat verfluchen, denn es liegen so viel gute Keime in ihr. Seine Seele wird sich weiten und wird einsehen, wie barmherzig Gott ist, wie schön und gerecht die Menschen sind.

 

Durch „Raskolnikow“ weiß der Leser, dass Dostojewski daran glaubte, dass ein Verbrecher durch niemanden mehr angeklagt wird, als durch sich selbst und sein eigenes Gewissen. Die Aufgabe des Gerichts wäre demnach, laut Dostojewski, nicht schuldig zu sprechen, sondern einen Gefallenen zu retten und ihm wieder durch Barmherzigkeit auf die Beine zu helfen.

Das sagt ein Mensch, der unschuldig nach Sibirien geschickt worden ist und dort sich selbst kennengelernt hat, der ohne Wut, aber mit einer unendlich tiefen Seele zurückgekehrt ist.

 

"Es lebe Karamasow!"




(c) Annelie Jagenholz

 (Alle Zitate sind der Gesamtausgabe "Dostojewski" von Zweitausendeins entnommen.)