Die Brüder Karamasow


(Eine Betrachtung)

Teil 1

 

 

… in Wahrheit ist jeder vor allen für alle schuldig, nur wissen es die Menschen nicht, wenn sie es aber wüssten, so wäre sofort das Paradies auf Erden.

 

… Um die Welt zu ändern, sie neu zu gestalten, müssen zuvor die Menschen sich selbst psychisch umstellen und eine andere Richtung einschlagen.


 

Hier ringen Gott und Teufel und der Kampfplatz ist – des Menschen Herz …

 

 

 

Dostojewskis letzter Roman ist wohl gleichzeitig sein komplexestes, leidenschaftlichstes und „religiösestes“ Werk, in der Auseinandersetzung mit den wichtigsten Sinnsuchfragen und solchen religiösen Hinterfragungen wie: Gibt es Gott? Soll man glauben? Woran soll man glauben? Was ist der Mensch in seinem Glauben? usw.

Die tiefste Frage, die behandelt wird, und die ausgerechnet von dem geläuterten Dimitrij Karamasow ausgesprochen wird, der angeblich seinen Vater erschlagen haben soll, ist: Kann der sich neu formende Mensch einer modernen Zeit die Menschheit lieben, wenn er nicht mehr an Gott glaubt? Wie wird er tugendhaft ohne Gott?

 

Obwohl sich auch die eigentliche Geschichte der Karamasows spannend liest, bleibt das Werk wohl doch eher durch seine intensive Philosophie im Geist haften, durch seine Tiefe, Gewalt und Kraft, als ein Werk, das sich in verschiedenen Standpunkten auf seine Charaktere zergliedert und den Leser auffordert, sich mit den Gedanken vertraut zu machen, all das nicht einfach durch die Augen strömen zu lassen, sondern als einzelne Hürden dem eigenen Verstand und Herzen darzulegen, um gegebenenfalls eine eigene Antwort zu finden oder dieser doch zumindest nahe zu kommen.
 

In diesem Riesenwerk tauchen viele Figuren aus anderen dostojewski'schen Romanen auf, nur sind sie hier nun tiefer und reiner ins Bild gesetzt, ergänzen einander und vollführen durch ihre Vereinigung in eben diesem Werk eine wunderbare Wiederbegegnung menschlicher Abgründe und Werte.

Aljoscha könnte man als eine Art Fürst Myschkin betrachten, Iwan als eine Kombination aus Raskolnikow und Stawrogin. Dimitrij hebt sich als ungehobelter, aber tief im Inneren doch feiner Mensch neu hervor, und doch glaubt man trotzdem gerade diesen Charakter gut zu kennen.

 

Gerade bei diesem Werk wird deutlich, wie vielschichtig Dostojewskis Kosmos ist, der keinerlei Stimme oder Position einnimmt, der seine Figuren gleichberechtigt nebeneinander agieren lässt, der mit einer Art Gegenüberstellung seiner Figuren hantiert, die einander die jeweils eigene Ansicht mit Blick auf die Welt entgegenhalten. So stehen dem „Alles ist erlaubt!“ eines Iwans z. B. die Worte des Staretz Sossima gegenüber, der davon spricht, dass wir uns für alle und alles verantwortlich fühlen müssen, damit wir erkennen, dass wir für alle und alles schuldig sind.

 

Der typisch dostojewski’sche Gegensatz, der sich in fast all seinen Werken findet, ist der des gläubigen Menschen (der nicht nur an Gott, sondern auch an Unsterblichkeit und an eine bessere Welt mit höheren Werten glaubt) gegenüber des ungläubig fortschrittlichen Menschen, der die Gegenwart nutzt, um die Gesellschaft nach Marx-ähnlichen Mustern zu verändern und neu aufzubauen und dafür verlangt, die Idee über das Wohl der Menschen zu stellen.

Im Gefängnis spinnt sich eine Unterhaltung zwischen Dimitrij und Rakitin, einem angehenden und nicht an Gott glaubenden Seminaristen, der eine Art Karikatur des Nihilisten Iwans ist, zusammen, wo dieser bei einer solchen Frage, ob eine Welt ohne Gott möglich ist, zu Dimitrij sagt

 

„Du, bemühe dich lieber um die Vermehrung der bürgerlichen Rechte der Menschen oder meinetwegen darum, dass der Preis des Rindfleisches nicht steige; damit wirst du der Menschheit einfacher und unmittelbarer Liebe beweisen als mit Philosophieren.“

 

 

Darauf entgegnet ihm Dimitrij:

 

„Du aber, wirst ohne Gott selbst noch den Preis des Rindfleisches erhöhen, wenn das nur in deiner Macht steht, wirst womöglich einen Rubel auf jede Kopeke aufschlagen.“

 

 

Darin enthalten ist die Überzeugung des einen, dass das Wohl der Menschen für eine bessere Zukunft geopfert werden dürfe, was der Schriftsteller Dostojewski in seinen fatalen Folgen weise vorausgefühlt hat und was eine Illusion bleibt, weil ohne Werte und mit menschlichen Opfern nichts Gutes erbaut werden kann und selbst das Moderne, das Neue nur mit verändertem Gesicht in der genau gleichen und dreckigen Gosse landet, dort mit den Schatten kämpft und sich selbst der Nächste ist.

Dostojewski war der festen Überzeugung, dass der Mensch nie Mittel zum Zweck werden dürfte, nie für eine Idee geopfert gehört. Sein Wunsch war, dass der Mensch sich selbst verändere, um eine bessere Welt zu kreieren. Bei ihm ist die Verneinung im Endeffekt eine Vernichtung. der Mensch wird sich selbst zerstören in der Erkenntnis, dieser Welt und seinen Zweifeln nicht gewachsen zu sein.

 

Das Motto, das Dostojewski für seinen Roman „Die Brüder Karamasow“ gewählt hat, ist aus dem Johannes-Evangelium (XII, 24):

 

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“

 

 

Tod und Zerfall haben nichts Endgültiges und Negatives an sich. Daraus erwächst etwas Größeres und noch nicht Erschautes,… ein neues, besseres Leben. Und darum kann für Dostojewski auch in jedem Verbrecher und Schurken eine gute Seele wachsen, die sich selbst hinterfragt und die ihre eigenen Fehler erkennt. Darum soll der Mensch in der Welt gut handeln, weil diese nicht die einzige ist. Die Geschichte soll nicht mit Zweifeln und Sorgen angefüllt werden, über denen vergessen wird, sie zu lenken. Für Dostojewski ist die menschliche Seele breit angelegt und keiner hat das Recht, sie zu verengen. Wer das Leben liebt, der wird auch seinen Sinn begreifen.

 

 

1.

 

Als ich die Brüder Karamasow das erste Mal gelesen habe und mich von der Tiefsinnigkeit des Werkes beeindrucken ließ, tendierte meine Sympathie vor allen Dingen zu Iwan, der häufig schweigt wie eine Sphinx, damit rätselhaft bleibt und sich andererseits in seinem ganzen euklidischen Verstand sehr deutlich offenbart. Auch mochte ich Aljoscha, dessen Gutgläubigkeit und Liebe zur Menschheit mich bewegten, wenn beide Figuren eigentlich füreinander große Gegensätze darstellen, aber vielleicht mochte ich sie auch gerade darum, weil sie beide Seiten repräsentieren, die den Menschen ausmachen.

Beim erneuten Lesen, und da wunderte ich mich selbst, hat es mir die Figur Dimitrij angetan, dessen rohes Wesen sich dann selbst erkennt und läutert, der ungestüm und wild und doch auch leidenschaftlich durch die Welt hastet, während Iwan mir an einigen Stellen in seiner ganzen Verachtung aufging, die sich notgedrungen aus seinen Selbstzweifeln entwickeln musste. Mir fiel auf, dass er, der Denker mit dem großen Herzen, häufig sehr gemein zu anderen Menschen ist, obwohl er für die Welt Gerechtigkeit verlangt.

Dimitrij wirkte auf mich vielleicht auch darum tröstlich, weil er die Strafe, die ihm aufgebrummt wird, nicht annimmt, wenn er auch behauptet, sein Vorhaben sei ein ähnliches Gefängnis wie das, das für ihn durch Schuldspruch verordnet wurde. Er ist Opfer eines Justizirrtums, steht für Dostojewskis Skepsis an dem gerade in Russland eingeführten Geschworenengericht, bei dem die Frage aufkommt, wer hier über Leben und Tod, über einen Menschen oder Verbrecher entscheiden kann, wer damit also Gott und dem Sünder selbst die eigene Bestrafung aus der Hand nimmt und inwieweit so ein Urteilsspruch Gültigkeit hat, was er bei dem Verbrecher bewirkt und auch zerstört.

Im wichtigen Gespräch zwischen Iwan und Aljoscha fragt Iwan gleichfalls, wer das Recht hätte, einem anderen zu vergeben, wenn an seinem Kind Unrecht getan wurde. Aljoscha führt Gott an.

 

Hier zeigt sich, wie vielschichtig Dostojewskis Menschen sind. Sie tragen in sich nicht nur eine einzige Ansicht und Richtung zu denken, sondern bergen jene zwei Abgründe (den Abgrund von oben und den Abgrund von unten), also genau jene Dualität, die den Menschen, ist er realistisch getroffen, ausmachen.

Das ist das, was Dostojewskis Roman gleichfalls tief und komplex macht, dass seine Figuren nicht so einfach zu durchschauen sind, keinem Muster entsprechen, dass sie in ihren Handlungen überraschen und gleichzeitig auch sich selbst beständig widerlegen.

Man blicke hier gerade auf die Frauenfiguren oder auf den geläuterten Dimitrij.

Andere sind die Zerrspiegel der Hauptfiguren, wie z. B. Smerdjakow der Zerrspiegel von Iwan ist, der mit seinem Wesen ausdrückt, was eine aus dem Gerechtigkeitssinn hervorgebrachten Idee bei ungebildeten, wenn auch nicht dummen Menschen hervorrufen kann. Jene Ideen, die theoretisch betrachtet in einer moralischen Auffassungsgabe z. B. Sinn ergeben, die aber, auf die Masse verbreitet, die nicht selbst denkt und sich nur um den eigenen Schatten kümmert, verheerende Auswirkungen hat.

 

Dostojewskis „Religion“ hat nichts mit dem Katholizismus oder Christentum zu tun, dessen indoktriniertes System er ablehnt und gerade im „Großinquisitor“ karikiert und kritisiert. Auch kann sie sich nicht mit der Tolstois vergleichen lassen. Seine Religion lässt sich „vom Licht des Ostens“ leiten, ist mythischer, spricht, in der Stimme des Staretz Sossima, von Liebe, Brüderlichkeit und Vergebung ohne Vorschrift und Zwang, davon sich selbst ändern zu müssen, um die Welt zu verändern, dabei aber nicht als Rückbesinnung auf den Menschen selbst, sondern als eine Art tiefen Glauben an den Weltenzusammenhang. Sossima spricht von der Abschaffung aller Bedürfnisse, um frei sein zu können und als „neuer Mensch“ aufzuerstehen, noch in diesem Leben, ein überzeugendes Plädoyer gegen die Individualisierung und damit Vereinsamung der Gesellschaft.

 

Wenn Dostojewski von Religion spricht, dann meint er den nichtrationalen Raum, der für ihn nur im Mystischen erfasst werden kann, der über den menschlich kleinen Verstand hinausreicht. Um sich aber mit diesen mystischen Barrieren zu befassen, die wider die Rationalität stehen, dafür dient Dostojewski die Religion, der Glaube der Menschen, eben … Gott. In diesem ist alles miteinander vereint und verbunden. Durch ihn dringen andere Welten in den Menschen, durch die er durch die eigene geleitet wird und deren Stimme er, je nach Typ und Erkenntnissen, mehr oder weniger verlieren kann.

 

  • Vieles auf Erden ist uns verborgen, als Ersatz dafür aber ward uns ein geheimnisvolles heimliches Gefühl zuteil von unserer pulsierenden Verbindung mit einer anderen Welt, einer erhabenen und höheren Welt, und auch die Wurzeln unserer Gedanken und Gefühle sind nicht hier, sondern in anderen Welten.
  • Deshalb sagen die Philosophen, dass das Wesen der Dinge hier auf Erden nicht zu erfassen sei. Gott nahm Samenkörner aus anderen Welten und säte sie auf diese Erde und ließ seinen Garten erwachsen, und es ging alles auf, was aufgehen konnte, aber das Aufgegangene lebt und bleibt pulsierend lebendig nur durch das Gefühl seiner Berührung mit geheimnisvollen anderen Welten; wenn dieses Gefühl in dir schwach wird oder abstirbt, dann stirbt auch das, was in dir aufgewachsen war. Dann wirst du auch dem Leben gegenüber gleichgültig und beginnst es sogar zu hassen.

 

 Alles entsteht aus dem GEIST und geht wieder in ihn ein. Nichts anderes beinhalten die Worte des hier zitierten Staretz Sossima. Und wenn du diese Verbindung verlierst oder gar selbst zerstörst, wirst du das Leben anders und verzerrt wahrnehmen.

 

Eine wichtige Vertiefung dieses Themas ist die Geschichte des „Großinquisitors“, an der sich so viele Literaten in einer Deutung versucht haben.
Iwan Karamasow, der zunächst als Nihilist und Ungläubiger auftritt, erstaunt durch seine Haltung, wenn er behauptet, er werde Gott nicht in Frage stellen, womit er der religiösen Diskussion vorerst allen Wind aus den Segeln nimmt, denn er hält sich mit seinem menschlich irdischen Verstand nicht für berechtigt, diese Frage beantworten zu wollen, gerade darum, weil sie nicht zu beantworten  ist. Er sagt also, er glaube durchaus an Gott, an eine göttliche Harmonie, jedoch die Welt, die Gott geschaffen haben soll, die würde er ablehnen. Um das zu untermalen, berichtet er von einer Welt, in der Kinder gequält und getötet werden, Menschen leiden, umkommen und schlimmer als Bestien agieren.

 

  • Man spricht von der „tierischen“ Grausamkeit des Menschen, aber das ist sehr ungerecht und für die Tiere wirklich beleidigend: ein Tier kann niemals so grausam sein wie der Mensch, so ausgeklügelt, so kunstvoll grausam.

 

Um seine Ansichten zu untermalen, warum er diese Welt nicht akzeptiert, wie sie ist, zählt er, bevor er zum eigentlichen Poem kommt, verschiedene Vorfälle auf, in denen Kinder durch menschliche Anweisung gequält, misshandelt und getötet wurden, eine Realität, die grausam aus diesen Seiten der „Brüder Karamasow“ hervorsticht und die Dostojewski dennoch wirklichen Zeitungsartikeln entnommen und auch in seinem „Tagebuch eines Schriftsteller“ näher betrachtet hat.

Iwan erklärt auch, dass er die Beispiele von gemarterten Kindern anführt (übrigens hat sich z. B. Camus diesen dostojewski’schen Gedanken regelrecht einverleibt), um nur einen winzigen Bereich einer ungerechten und verkommenen Welt darzustellen, Ereignisse also, die er nicht versteht, die niemand versteht, warum er die Welt auch nicht akzeptiert, in der so viel Leid geschieht, das weit über die Beispiele und Kinder hinausreicht. Er spricht von einer zu blutig erkauften Sehnsucht nach Ruhe und Harmonie.

 

Aber gerade die Kinder, die leiden, sind es, die Iwan in seiner Theorie als Beweis anführt und im Sinn der Gerechtigkeit hervorhebt. Warum leiden auch diese Unschuldigen in einer Welt, die doch angeblich von einem guten Gott erschaffen wurde, für eine spätere Harmonie des Ganzen? Auch fragt Iwan Aljoscha (wie einst Dostojewski selbst die Menschen in seiner „Puschkinrede“), ob er, würde er den „ganzen Bau der Gesetze für das Menschengeschlecht“ errichten müssen, mit „dem Ziel im Auge, zum Schluss alle Menschen glücklich zu machen“ unter der Bedingung, dafür ein einziges winziges Geschöpf zu quälen, darin einwilligen, der „Architekt dieses Baus“ zu sein oder ob er die Vorstellung zulassen könnte, dass die Menschen, für die er die Welt erbaut, ihrerseits einwilligen, „ihr Glück um den Preis des nicht gerechtfertigten Blutes so eines kleinen Märtyrers zu empfangen“ und wie sie dann wohl noch glücklich sein könnten und was das für eine Harmonie wäre, die erst durch Leiden erreicht werden kann.

 

"… wenn alle leiden müssen, um damit die ewige Harmonie zu erkaufen, so sag mir doch bitte, was das mit den kleinen Kindern zu tun hat? Es bleibt unbegreiflich, warum auch sie leiden müssen und warum auch sie durch Leiden die Harmonie erkaufen sollen.
(…) Darum beeile ich mich, solange es noch Zeit ist, meine Schutzwehr dagegen zu errichten, und darum danke ich im Voraus für jede höhere Harmonie. Ist sie doch nicht einmal ein einziges Tränlein jenes gequälten Kindes wert, das sich mit dem Fäustchen an die kleine Brust schlug und zu seinem „lieben Gottchen“ betete.
(…) Und was ist das für eine Harmonie, wenn es noch eine Hölle gibt? Ich will verzeihen und umarmen und will nicht, dass noch gelitten werde. Und wenn die Leiden der Kinder zu jener Summe von Leid, die zum Kauf der Wahrheit erforderlich ist, unbedingt hinzukommen müssen, so behaupte ich im voraus, dass die Wahrheit diesen Preis nicht wert ist.
(...)  Ich will keine Harmonie. Aus Liebe zur Menschheit will ich sie nicht."

 

Bezeichnet für jenes Poem „Der Großinquisitor“ ist vielleicht, dass Iwan es nie niedergeschrieben hat, sondern das es seit langem in seinem Kopf festsitzt und nun, für den Novizen Alexei, daraus von ihm zutage gefördert wird. Es ist also die tiefste Überzeugung Iwans, die seine ganze Persönlichkeit ausmacht, die mit Zweifeln und Verachtung ringt, um den Sinn des Lebens inmitten all dieser Quälereien ausmachen zu können, der sich durch all das Leid gequält hat und nicht mehr die Kraft aufbringt, nach vorne zu blicken, ob dort ein anderes Licht leuchten mag.
 

Iwan berichtet in „Der Großinquisitor“ seine Version von der Wiederkehr Christi im spanischen Sevilla im sechzehnten Jahrhundert. Darin ist das Thema behandelt, was wäre, wenn Christus noch einmal die Erde betreten würde, der dafür kämpfte, dass der Mensch nicht an Wunder glauben, sondern aus sich selbst heraus nach Gottes Stimme rufen und diese vernehmen soll, statt sich auf materielle Güter zu verlassen und einzig aufgrund seiner Bedürfnisse zu leben. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein…“, sprach einst Christus, während der Großinquisitor dem nun wiederauferstandenen, jedoch schweigenden Christus entgegenhält: „Sättige sie zuerst, dann kannst du von ihnen Tugenden verlangen.“
 

In der Karamasow’schen Version würde Christus, selbst wenn die Menschen ihn erkennen, denen zum Opfer fallen, die in seinem Namen lügen und mittels Religion den Menschen unterwerfen, ihn zum gehorsamen Sklaven machen. Sie würden ihn auf das Schafott tragen und verbrennen, wenn sich nicht der Großinquisitor so sicher wäre, die Menschen längst in der Hand zu haben, dass das, was Christus in ihnen sähen wollte, nie hervorbrechen wird. Denn das, was Christus vom Menschen erwartet, so der Großinquisitor in seiner Argumentation, sei die Stärke weniger Auserwählter, während die meisten Menschen eher schwach sind. Daher gibt die Kirche den Menschen den in den Augen des Katholizismus „wahren Glauben“, damit das Recht zu sündigen, um Buße zu tun und Absolution zu erhalten. Der Mensch ist nicht nur deren Sklave, sondern fürchtet sich vor allen Dingen vor der Freiheit, denn die meisten quält diese Freiheit und sie suchen nach Führung, die die Kirche ihnen bereitwillig und zu ihren Bedingungen der Lüge und Unterwerfung gewährt, zu nicht all zu hohen Ansprüchen, wie es Christus von ihnen verlangte.

Dieses hier behandelte „Wunder“, das Christus ablehnte (z. B. sich in den Abgrund zu stürzen, um den Menschen zu beweisen, dass Gott ihn auffangen wird), der Großinquisitor jedoch als guten Schachzug ansieht, hätte Christus so gehandelt, taucht häufiger im gesamten Werk der Karamasows auf. Zum Beispiel, als der Staretz Sossima stirbt und die Menschen etwas „Unglaubliches“ erwarten. Stattdessen zerfällt der Leichnam schneller und verbreitet einen unangenehmen Gestank. Hier gibt es kein Wunder und die Gläubigkeit der Mönche und auch die von Aljoscha wird auf eine harte Probe gestellt. (Selbst im „heiligen Bereich“ des Klosters verwirklicht sich Iwans Poem vom Großinquisitor.) Aljoscha geht daraus tatsächlich erschüttert hervor, gewinnt aber durch die Erschütterung einen neuen und stärkeren Glauben.

Durch den unangenehmen Gestank, den der so verehrte Sossima bei seinem Tod verbreitet, entlarvt Dostojewski gleichzeitig auch den eitlen Glauben. Die Mönche hinterfragen sofort, was mit dem Starzen nicht stimmt und was für Auswirkungen diese Entwicklung mit sich bringt. In den nackten und verwesenden Leichnam wird immer noch etwas Überirdisches hineininterpretiert und die Menschen können nicht fassen, dass auch ein Heiliger den gleichen Bedingungen unterworfen ist, wie alle anderen Menschen. Auf einmal gerät ihr Glauben ins Wanken. Ähnliches macht Dostojewski z. B. in "Schuld und Sühne", wo er Sonja beim Sterben des Säufers Marmeladow in buntem Kleid, mit hellen Stiefeln und Sonnenschirm (als Sinnbild der Fröhlichkeit) auftreten lässt, die dem Popen gegenüber stellt und in deren Armen Marmeladow dann tatsächlich stirbt.

Was Dostojewski im "Großinquisitor" vertieft, ist die Einstellung, die er in einem Brief an W. Solowjow zusammengefasst hat:

 

  • "Sie können die paradoxeste Behauptung aufstellen - Sie brauchen sie nur nicht zu Ende sprechen, und man wird Ihre Worte geistreich und fein und comme il faut finden. Sprechen Sie aber diesen oder jenen Satz ganz aus, sagen Sie etwa plötzlich: "Das ist der Messias", ganz unumwunden, nicht bloß andeutungsweise - niemand wird Ihnen glauben, gerade wegen Ihrer Naivität, gerade weil Sie Ihren Gedanken bis in seine äußerste Konsequenz verfolgt haben, weil Sie Ihr letztes Wort ausgesprochen haben ... Der Mensch scheint überhaupt immer und überall eine Abneigung zu haben gegen alle letzten Worte, alle ausgesprochenen Gedanken. Es lügt, wer ausspricht, was er denkt."

 

Der Großinquisitor glaubt in Iwans Poem, er handle aufopfernd, das heißt, in guter und menschlicher Absicht, den schwachen Menschen vor der bedrohlichen Freiheit zu bewahren und ihm stattdessen das fertige Gerüst des Glaubens zu schenken. Er spricht davon, alle zu befreien, natürlich mit der Freiheit, die aus gläubigen und gottesfürchtigen Händen geformt wurde, während Christus nur die wenigen Auserwählten retten konnte, die bereit waren, sich selbst zu retten und an Gott zu glauben, in das Sein und in Gott zu vertrauen.

Als der Großinquisitor Christus bewiesen zu haben scheint, dass das Handeln der Kirche besser als der Ursprung jedes Glaubens wäre, küsst ihn Christus, worauf er ihn nicht verbrennen lässt, sondern ihm sagt, er solle verschwinden und nie wiederkommen.

 

Hier wird also insbesondere der Katholizismus, die römische Kirche, kritisch beurteilt, der sich das Göttliche greift und daraus eine irdisch vertretbare Angelegenheit macht, während Jesus vom Menschen zu viel verlangt haben soll, und zwar, dass sie aus freiem Willen glauben. Dostojewski erklärte an anderer Stelle so überzeugend, dass wenn ihm jemand bewiese, dass Christus außerhalb der Wahrheit stände, er es vorziehen würde, bei Christus, nicht bei der Wahrheit zu bleiben. Die Wahrheit steht hier für das christliche Dogma. Ganz im Gegenteil sprich der Inquisitor Christus auch nicht die durch ihn an den Menschen erteilte Wahrheit ab, sondern geht nur davon aus, dass der Mensch diese Wahrheit nicht fähig ist, anzunehmen oder ihr zu folgen.
 

Rosanow verweist in Bezug auf das Wunder in „Dostojewskis Legende vom Großinquisitor“ ganz richtig darauf, dass Christus im Gegensatz zu Iwans (Dostojewskis) Ausführung, eigentlich doch schrecklich viele Wunder vollbracht hat, um die Menschen zu überzeugen. Er hat mit 5 Broten 5000 Menschen genährt, Wasser in Wein verwandelt, Stürme besänftigt, Lahme geheilt … Dazu sagte Christus: „Wenn solche Wunder geschehen wären, hätten die Menschen schon an mich geglaubt, doch ihr - glaubt nicht.“

Dostojewskis Hintergedanke ist ein anderer, um an dieser Stelle L. Müller* zu zitieren:

 

  • "Im Grunde gibt es für Dostojewski nur ein Wunder. Christus hat es nicht getan, sondern er ist es. Die Persönlichkeit Christi ist das Wunder der Weltgeschichte, da in ihr das absolute Ideal zur konkreten Wirklichkeit, das Wort zum Fleisch geworden ist."

 

Wenn Iwan sagt, er glaube, dass der Mensch sich den Teufel nach seinem eigenen Abbild erschaffen hat, so hält ihm Alexei entgegen, dass der Mensch sich, nach dieser Theorie, auch Gott erdacht hat, nach gleichem Muster. Der Mensch, zweigeteilt, der das Gute und das Böse zu unterscheiden gelernt hat, wo Gott und Teufel miteinander ringen und der Schauplatz ist das Menschenherz, trägt die Idee beider Schöpfungen in sich, und beide sind Abbild seiner selbst. Der dichterische Mythos bedingt die bis ins Unendliche projizierte Sehnsucht des Menschen von Gottseligkeit und Gottlosigkeit.



 


 

 

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* (Quelle: L. Müller "Der Einfluss des Protestantismus auf das orthodoxe Kirchen- und Geistleben", zu finden in "Evangelisches und orthodoxes Christentum in Begegnung und Auseinandersetzung", Hamburg 1952, S. 167/168))