Philippe Ariès - Geschichte des Todes


(c) Annelie Jagenholz



Teil 5

Zweites Buch


Der verwilderte Tod




Als Ariès über Erasmus von Rotterdam und die Rolle der Krankheit und Erkenntnis spricht, sagt er so schön:

  • „Wenn wir Plato Glauben schenken wollen, so ist die Philosophie immer meditatio mortis. Es bedarf aber der Schicksalsschläge, um sich diese Philosophie zu eigen zu machen!“



Ab dem 16. Jahrhundert entwickelt sich zunehmend der Gedanke daran, dass nicht nur die Sterbenden, sondern der Mensch überhaupt sich auf den Tod vorbereiten muss und sich darin zu üben, dem Tod beizeiten entgegenzusehen. Hier wird allerdings nicht im ausschließlich positiven Sinne davon Gebrauch gemacht, wie es der Buddhismus lehrt, sondern mit und unter Zwang und Drohung der Kleriker, die mit erhobenem Finger aus diesem Wandel ihre Macht demonstrieren, dass der sterbliche Mensch nicht erst im Angesicht des Todes schnell seine Sakramente empfängt und damit glaubt, alles für sein Seelenheil arrangiert zu haben, sondern Buße zu tun, schon ein Leben lang, um ins Himmelreich eingehen zu können. Daher auch Ariès kritische Ansichten zu diesem Thema, dass mich natürlich am Anfang besonders fesselte und schnell verwunderte, aufgrund des warnenden Untertons. Grundsätzlich muss man hier ewig wiederholt festhalten, dass die Reflektion über den Tod gerade darum wichtig ist, um ihm die Macht zu nehmen und nicht ein Leben mit der Angst vor ihm zu verbringen.

Auch stößt der Zwang klerikaler Befehle einerseits zwar auf, lässt aber vermuten, dass durch diese erst moralische Reflektionen über das eigene Handeln vertieft werden konnten, bis sich daraus wiederum so manch verbissene Übertreibung entwickelte.
Überhaupt muss ich, immer kritisch in Glaubensfragen, anmerken, dass ein vernunftbegabtes und seiner selbst bewusstes Wesen grundsätzlich aus jedweder Religion das daran Geeignete herausziehen kann, dass dem eigenen Sein als auch der Menschheit dient, selbst wenn die moralischen Forderungen überladen und unter Dogma, Schwulst und Drohung verborgen liegen.
Ariès ist strikt der Überzeugung, dass die geistlichen Autoren in der Mehrzahl der Fälle eher die Tendenzen ihrer Zeit ausbeuteten als dass sie sie initiieren.
Ich finde, er lässt die sich davon unabhängig entwickelnden oder die sich notwendig daraus formenden Tendenzen außer Acht, oder eben jene, die erst durch eine solche Richtung aufkommen können, als die Reaktion und Weigerung bestehender Normen und moralischer Voraussetzungen.

Ariès schweift nun auch nach England und Amerika ab, wo eine ebenfalls makabre Epoche vorherrschte, sich allerdings erst später, im 17. Jahrhundert, herausbildete. Auch wurde hier aus Demut häufiger nach einem Grab auf dem Friedhof gestrebt, wenn sich schon jeder Dahergelaufene einen Platz in der Kirche sicherte (wie es unter Empörung in einem Testament zu lesen war).

Das Leben hatte aufgehört, so begehrenswert zu sein, als der Tod aufhörte, so in Szene gesetzt zu werden. Bei Bossuet wird deutlich, wie sehr sich allmählich das Nichts ausbreitet, ein Gefühl von Vergänglichkeit, der Kürze des Lebens vorherrscht, der Mensch winzig geworden ist:

  • Ich nehme wenig Raum ein in diesem großen Schlund der Jahre. (…) Ich bin nichts. Diese kleine Zwischenzeit ist nicht imstande, mich vom Nichts abzuheben, in das ich eingehen muss.


In einem neapolitanischen Epitaph heißt es:

  • Was ist die Welt?
  • Was ist die Welt? Nichts.
  • Wenn sie aber nichts ist, warum dann die Welt?
  • Das Nichts ist wie die Welt.


Noch eine Weile wurde das Nichts mit der Unsterblichkeit versüßt, jedoch entfernten sich beide Bereiche immer mehr voneinander. Zurück blieben das Nichts (ohne schon nackt zu sein), die Natur und die Materie. – Wir gehen alle wieder in den Zustand ein, in dem wir vor unserem Dasein waren.

In der Biographie von Lely nachzulesen, ordnete de Sade für ein fiktives Begräbnis in seinem Testament das an, was die Stimmung der Zeit ausmachte, wenn er auch etwas weiter ging. Nach seinem Tod, verlangt er:


  • „... soll ein Bote zu dem Holzhändler Le Normand in Versailles (…) geschickt werden, damit er selbst mit einem Wagen in das Gehölz auf meinem Landgute Malmaison, Gemeinde Maucé nahe bei Épernon, gebracht werde, wo sie ohne jede Zeremonie in dem ersten Gebüsch bestattet werden soll, das sich rechts in besagtem Gehölze findet, wenn man durch die große Allee von der Seite des alten Schlosses hereintritt. Die Grube soll durch den Pächter von Malmaison geschaufelt werden, unter der Aufsicht des Herrn Le Normand, der nicht vor vollendeter Bestattung fortgehen soll. Bei dieser Zeremonie können diejenigen meiner Freunde oder Verwandten zugegen sein, die mir dieses letzte Zeichen ihrer Liebe geben wollen. Wen die Grube bedeckt ist, soll der Boden mit Eicheln besäht werden, damit, wenn das Erdreich besagten Grabes wieder begrünt ist und das Unterholz sich wieder wie früher geschlossen hat, die Spuren meines Grabes von der Erdoberfläche verschwinden, wie ich hoffe, dass mein Andenken in der Erinnerung der Menschen ausgelöscht werden wird, ausgenommen gleichwohl die kleine Zahl derer, die mir bis zum letzten Augenblick ihre Liebe bezeigt haben und an die ich eine sehr sanfte Erinnerung mit ins Grab nehme."


Das ist die Rückkehr zur Natur und zur ewigen Materie, als elegische und wilde Poesie und Verromantisierung, was auch Potocki in seiner „Handschrift“ ins Bild setzte, wo auf dem Totenbett gesagt wird:


  • Nichts wird von mir bleiben. Ich schwinde gänzlich dahin, ebenso namenlos, wie wenn ich nie geboren worden wäre.



Der tote Körper


Ariès nimmt zwei Exemplare der Medizin des 17. Jahrhunderts zur Hand, wobei sich hier nicht mit der Krankheit, sondern mit dem Tod beschäftigt wird. Heutzutage ist der Tod der schlechte Ausgang (will man es so salopp formulieren), während die Genesung den ärztlichen Erfolg bedeutet. Man beschäftigt sich also medizinisch hauptsächlich mit der Krankheit. Im 17. Jahrhundert suchte man über den Leichnam den Tod und auch das Leben besser zu begreifen.
So stellt der deutsche Arzt Garmann zwei Thesen auf. Einmal: Leben ist eine Ausnahme von der Natur. Hier bestätigt sich die damalige Vorstellung, dass der Tod als Rückkehr zur Natur empfunden wird. Gemeint aber ist, dass der Leichnam, auch wenn er konserviert wird, trotzdem erst dann erlischt, wenn die alles zersetzende Natur über ihn die Herrschaft gewinnt. Das ist das Ende, der endgültige Tod. Daher ist Leben wider die Natur, die hier die Rolle des gefräßigen Seins spielt.
Zweitens, erklärt Garmann, sei das Leben weder Materie noch Substanz, sondern Form. Es ist Licht und Ursprung, ein Ursprung, der jedes Mal vom Schöpfer ausgeht, wie da Feuer vom Feuerstein.

Die erste These – sie wird der jüdischen Medizin zugeschrieben - impliziert die Überzeugung nach Paracelsus, dass der Tote noch Empfindungsvermögen hat. Er bewahrt eine Lebenskraft, einen Rückstand Leben. Man ordnete daher z. B. an, dass die Erde leicht sein soll, unter der der Leichnam begraben wurde. Die Argumente Tertullians, zugunsten der Unsterblichkeit der Seele, wurden hier großzügiger ausgelegt und auf den Körper projiziert.
Die zweite These leugnet das Überleben des Leichnams. Sie beruft sich auf Scaliger, Gassendi und auch Seneca. „Die Seele des Menschen kann nicht außerhalb des menschlichen Körpers wirken.“ Ein Körper ohne Seele ist nichts mehr.
Die Thesen widersprechen sich also. Die einen glauben an eine Fortdauer als eine bestimmte, undefinierte Form von Leben und Empfindungen, die anderen weisen dies zurück. Stirbt der Körper, ist auch die Seele nicht mehr. Hier stehen sich sowohl zwei Gemeinschaften von Gelehrten als auch Lebensauffassungen gegenüber.

Dadurch kommen zwei verschiedene Befürchtungen auf. Einmal wünschen die Menschen in ihrem Testament, geöffnet und konserviert zu werden, weil sie Angst davor haben, lebendig begraben zu werden, zum anderen lehnen sie diese damalige Tradition ab, aus der gleichen Befürchtung heraus.
Auch galt der Leichnam oder Teile von ihm als heilsam und als Aphrodisiakum. Knochen sollten vor Gefahr bewahren, das Berühren der Leiche oder der Schweiß des toten Körpers sollten gut gegen Hämorriden oder Warzen oder viele andere Dinge sein. Teilweise wird dem Leser bei den vielen Beispielen etwas flau im Magen, wenn es z. B. ans Zerstückeln und Einkochen de Fleisches geht, daher sei dies hier nicht so ausführlich behandelt und lediglich angedeutet.


Nach den makabren Tänzen des 14. und 15. Jahrhunderts bildete sich im 16. Jahrhundert die Hinwendung zu Eros und Thanatos heraus. Der Tod wurde mit Erotik gleichgesetzt und abgebildet, oftmals sehr makaber bishin zu sehr morbiden Darstellungen, die (z. B. in der Literatur) im Sadismus endeten.


Beispiele dafür sind in der Kunst z. B. "das Martyrium des Heiligen Erasmus" von Poussin:


... oder von Dieric Bouts "Martyrium des Hl. Erasmus":



Von letzterem Bild schreibt Ariès:



  • "Auf dem flämischen Gemälde, das die Ruhe einer Miniatur ausstrahlt, rollt ein gewissenhafter Henker vor dem Kaiser und seinem Hof die Eingeweide des Heiligen Erasmus um eine Haspel. Alles ist friedlich; jeder verrichtet seine Arbeit ohne Hast noch Heftigkeit, ohne Leidenschaft, mit einer Art von Gleichgültigkeit. Der Heilige selbst wohnt seinem Todespein wie ein Fremder bei, wie der Sterbende der ersten ars moriendi einem eigenen Tod beiwohnte. Nichts trübt die Ruhe der Szene."



Hier noch einmal die Gesamtansicht des Tryptichons:


Diese Darstellung war darum möglich, da die Anatomie entdeckt war, dafür sogar zum Leidwesen des Alltagsmenschen Leichen von den Friedhöfen gestohlen wurden (Ariès führt einige Beschwerden und literarische Hinweise an, wie z. B. den von Chateaubriand, der schreibt: Jede Nacht verkündete mir die Klapper des watchman, dass soeben Leichen gestohlen worden waren.), um den Körper genauer zu erforschen, häufig in privaten Häusern, zur Neugierde und Zurschaustellung.


Bei dem Maler Orazio Fidani wird Erasmus perspektivisch bereits wie ein Leichnam in einer Anatomiestunde dargestellt. Ein Knecht öffnet den Unterleib des Märtyrers und nimmt ihm die Eingeweide heraus.



  • Das ist nicht mehr das einfache Aufwickeln wie bei Bouts, das ist der Anfang einer Sektion am lebenden Körper.



Hier soll nicht mehr zur religiösen Andacht eingeladen werden, dargestellt ist die aufgestachelte Erregung.

Besonders erschreckend tritt diese Nuance bei Gerard David „The Judgment of Cambyses“ zutage: (Detail):



Nichts für schwache Nerven.
Deutlich wird: Der Tod ist weder friedliches Ereignis noch moralische und psychologische Konzentration mehr. Er ist Gewalt und Leid und Agonie bishin zur morbiden Erotik als Ekstase der Leidenden. – Der Tod ist süß, der bei der Liebe kommt. Die Verwechslung von Tod und Wollust geht soweit, dass das Hochgefühl nicht unterbrochen wird, sondern weiter gesteigert. Der tote Körper wird Begierde.

Bei einem Gemälde von Donato Creti (1671-1749) ist der Kontrast zwischen dem toten Achill zu den Lebenden ergreifend:


(Quelle: necspenecmetu)

Bei William Etty wirft sich Hero mit Leidenschaft über den Leichnam des ertrunkenen Leander:

(Quelle: darkromance.com)

Bei Füsli sitzt Brunhilde in durchsichtigem Gewand vor dem Mann, den sie Folterqualen ausgesetzt hat:

Johann Heinrich Füssli "Brunhild und Gunther (1807)" (Quelle: bilder-geschichte.de)

Und auch in der Literatur schreibt Maturin bei „Melmoth der Wanderer“ von einem jungen Mann, der, um seine Familie zu retten, sein Blut verkauft und fast daran stirbt, er läge
  • ... in einer totenhaften Schönheit, welchem das Mondlicht einen Effekt verlieh, würdig des Pinsels eines Murillo, Salvator Rosa oder irgendeines jener Meister, die, vom Genius des Leidens inspiriert, darin zu schwelgen lieben, die schönsten menschlichen Körper in den entsetzlichsten Martern wiederzugeben. Ein geschundener Sankt Bartholomäus, welchem die in Streifen abgezogene Haut in den anmutigsten Ornamenten um den Leib drapiert ist, ein Sankt Laurentius, geröstet auf eisernem Bratrost, und dabei seinen herrlichen Körper den Blicken der mit dem Anblasen der Kohlenglut beschäftigten, nackten Folterknechte darbietend.


Aus diesen Geschmacksrichtungen heraus, die immer morbidere Züge annehmen (Leichenschändung und Nekrophilie) entwickelte sich dann sogar eine Vorliebe für den mumifizierten Leichnam, den die Menschen über Kunst und Literatur hinaus tatsächlich auch in ihren Wohnräumen lagerten. Der Verlust eines geliebten Menschen nahm gänzlich die Angst vor dem toten Körper, der wie das Skelett fast wie ein Fetisch betrachtet wurde. Die Mutter von Mme. de Staël verlangte, dass ihr Körper konserviert und in Weingeist gelagert werden sollte. Mme. de Staël dazu:

  • „Vielleicht wissen Sie nicht, dass meine Mutter so seltsame, so außergewöhnliche Anordnungen über die verschiedenen Arten, sie einzubalsamieren, sie zu konservieren, sie unter eine Glasscheibe in Weingeist zu legen, dass, wenn ihre Gesichtszüge in so vollkommener Weise bewahrt geblieben wären, wie sie wohl annahm, mein unglücklicher Vater sein Leben damit verbracht hätte, sie zu betrachten.“

De Sade war der Auffassung, dass die Natur grausam und zerstörerisch sei, dass in jedem Menschen jene Natur verborgen und eingeengt läge, so dass diese durch Gesellschaft auferlegten Bestimmungen den Menschen seiner Natur beraubten und er sich darum daraus befreien muss, um wieder ganz Natur zu sein. Er sagt auch, dass es keinen Tod gäbe – Der Tod sei nur eingebildet. – und er würde nur symbolisch existieren und ohne jede Realität. Die Materie, die dieses anderen sublimen Teils der Materie beraubt ist, der ihr die Bewegung mitteilte, zerstört sich deswegen nicht, sie ändern nur die Form, sie zersetzt sich. Auch beim Leichnam hört sie nicht auf.
Dem gegenüber stand die andere Auffassung des Zeitgeistes, die die Meinung vertat, dass die Kraft und Zerstörung der Natur vom Menschen beherrscht und zu guten Zwecken genutzt werden muss. Man müsse ihre Gesetze studieren und sich dann daran anpassen.
Das Interesse an den Toten ließ Theorien entstehen, aus denen sich dann Literatur wie Frankenstein herausbilden konnte.

Die Allmacht der Natur wirkte sich also in zwei Bereichen besonders stark auf den Menschen aus, in dem der Sexualität und des Todes.

 


Seele wird Geist

 

 

 

Die Menschen des 19. Jahrhunderts stellten sich den Tod als schön, erhaben und besser vor, gingen davon aus, dass dort all die wiedergefunden werden, die man im Laufe des Lebens verloren hat. Der Tod wird als Trennung von den einander liebenden Wesen aufgefasst, nicht mehr als Verlust des Lebens. Er ist Tod des Anderen wie eigener Tod, und er ist eigener Tod nur für den Anderen. Gleichzeitig gesteht man den Toten auch eine Art Geisterdasein zu, dass nicht Gespenst, sondern lediglich Energie und Anwesenheit ist. Die Spiritualität findet Einzug in die Vorstellungen. Deutlich wird dieses neue Empfinden in der Literatur von den Brontë-Schwestern. Bei Emily in „Die Sturmhöhe“ versucht Heathcliff dem Grab seiner verstorbenen Geliebten nahe zu sein und wird erst von diesem Vorhaben abgebracht, als er ihre Anwesenheit spürt. Bei Charlotte Brontë in ihrem Roman „Jane Eyre“ sind es mehrere Situationen, in denen die Kommunikation mit Geistern stattfindet.
Hier öffnet sich der Glaube, dass die Toten in einen besseren Zustand finden, in den man, stirbt man selbst, ebenfalls eingehen wird. Die Hölle existiert nur noch bedingt. Die Menschen glauben zwar an sie, halten sie aber nur noch möglich für Verbrecher und bösartige Menschen, schließen sie also für sich selbst und den Durchschnitt der Welt aus.

Auch kommt Ariès ausführlich auf den berühmten französischen Friedhof Pere Lachaise zu sprechen, der Sinnbild des 19. Jahrhunderts ist und zunächst für die Reichen gedacht war, die aber den Kauf pompöser Grabstellen nicht in dem Maße wahrnahmen, wie es vorgesehen war. So wurden schließlich nach und nach die Berühmtheiten herangeschafft.
Die Friedhöfe in Frankreich (insbesondere in der Nähe von Paris) wurden im 18. Jahrhundert in der Vorstellung und Entwicklung der Medizin zur Gefahr, die Menschen fürchteten die Gifte und Ausscheidungen der Toten, fühlten sich bedroht von Seuchen und Krankheiten, die sie den Toten zuschrieben. So wurden etliche Friedhöfe aus der Stadt heraus verlagert, die Gebeine in großem Aufwand umgeschichtet, wenn auch häufig von betrunkenen Hilfskräften, die das Andenken der Toten nicht im geringsten achteten. Die Empörung der Gesellschaftsschichten hielt sich wahrhaft in Grenzen, stattdessen herrschte Gleichgültigkeit vor. Nur ein Jahrhundert später, im 19. Jahrhundert, da der Tod das Gesicht der Erhabenheit angenommen hatte, der Tote verehrt und geschätzt wurde, verhielten sich die Menschen ganz anders, als man erneut von gefährlichen Friedhöfen sprach, und begehrten auf, dass die Gebeine der Toten gefälligst in Ruhe gelassen werden sollten. Hier kam auch die Idee auf, dass man die Überreste der Toten zu Glas verarbeiten könnte, damit sich jeder seinen Toten im eigenen Heim aufstellen konnte. Die Idee wurde ernsthaft diskutiert. Ariès, als Historiker, beklagt natürlich die Gleichgültigkeit des 18. Jahrhunderts, wo z. B. die Katakomben den Friedhof ersetzten und etliche, alte Gräber durch die Verlagerung zerstört wurden, aus denen heute etwas aus der Vergangenheit zu erfahren gewesen wäre.

Schließlich waren Friedhöfe Gelegenheiten, mit den Toten zu kommunizieren, den sonntäglichen Spaziergang hierher zu verlegen, bis sich das 19. Jahrhundert erneut einem Wandel unterzog.

Anhand von Tolstois Erzählung „Der Tod des Ivan Iljitsch“ verdeutlicht Ariès sehr schön, wie der Tod zur Lüge, dann schmutzig und schließlich ganz und gar negiert wird, aus dem Bereich der Familie zum totgeschwiegenen und schließlich ins Krankenhaus abgeschobenen Zustand gerät. In seiner Krankheit sitzt Ivan Iljitsch gefangen wie ein Tier in der Falle. Auch bei Flauberts Madame Bovary wird der Tod nicht mehr als erhaben und schön beschrieben, sondern in aller Qual, die der Sterbende durchmacht, samt der Agonie und der Angst, zu sterben. Bei Tolstois Erzählung wird dem Sterbenden verheimlicht, dass er stirbt, während er es selbst herausbekommt und dann wütend auf die Familie ist, die ihn so behandelt, wie ein Kleinkind, als Teil eines mächtigen Schauspiels, an dem alle teilnehmen. Jeder macht dem anderen etwas vor, und der Sterbende fügt sich in dieses Spiel, bis er, stirbt er, noch ein letztes Mal selbst Regie führt.

 


  • Jeder ist also Komplize in einem Lügengewebe, das sich in eben dieser Zeit zu entwickeln beginnt und den Tod von nun an immer entschiedener in den Untergrund verdrängt. Der Kranke und seine Umgebung spielen miteinander die Komödie „Es ist alles beim alten“ oder „Das Leben geht weiter wie zuvor.“



Während der Tod also aus der Öffentlichkeit in den Privatbereich der Angehörigen verschoben wurde, entwickelte sich eine neuartige Beziehung zwischen dem Sterbenden und seiner Umgebung. Hier ist die Rede von der Abhängigkeit des Sterbenden. Das „den Tod nicht spüren“ ist an die Stelle des „Sein Ende nahe fühlen“ getreten. Die Menschen glauben daran, dem Sterbenden sein Ende zu erleichtern, indem ihm verheimlicht wird, dass er stirbt. Er hat den Tod nicht gespürt, heißt es, während im Mittelalter noch vorausgefühlt wurde, dass das Ende nahe ist und man sich in Ruhe auf den Tod vorbereiten konnte. Das ist dem Menschen des 19. und 20. Jahrhundert genommen worden.

Schon im 18. Jahrhundert zeigte sich die Veränderung, das Schweigen über den Zustand des Kranken, wobei der Priester die Aufgabe übernahm, dem Sterbenden zu vermitteln, dass sein Ende nahe ist, nicht so sehr durch Worte, sondern alleine durch sein Erscheinen. Schließlich wurde er nur noch gerufen, wenn es passiert war, diente also mehr zur Beruhigung der Anwesenden. Damit war die Letzte Ölung nicht mehr ein Sakrament für die Sterbenden, sondern für die Toten.
Im 19. Jahrhundert verschwanden die frommen Klauseln aus den Testamenten, das letzte Lebewohl, die Öffentlichkeit des Sterbens. Der Kranke wurde über seinen Zustand im Unklaren gelassen und ging schließlich dahin, ohne ein letztes Wort gesagt zu haben. Dieses Verhalten wurde im 20. Jahrhundert Voraussetzung.

Doch die Veränderungen gehen noch viel weiter. Die emotionale Anteilnahme wird vermieden und gerät in ein gewolltes Klima alltäglicher Banalität. Der Tod wird hässlich und unangenehm, unschicklich und dreckig.



 

  • Eben deshalb ist die Reinlichkeit zu einem bürgerlichen Wert geworden. Der Kampf gegen den Staub ist die erste Pflicht einer viktorianischen Haushälterin. Die christlichen Missionare verpflichten ihre Katechumenen ebenso sehr auf die Sauberkeit ihres Körpers wie auf die der Seele, deren Zeichen sie ist. Und noch heute beruft sich die Hetze gegen die langen Haare junger Leute sowohl auf die Hygiene als auf die moralische Sittenordnung. Ein sauberer Junge hat auch die Chance, saubere Ansichten zu entwickeln: er ist gesund.



Ein schmutziger Tod hat darin nichts mehr zu suchen. So muss der Tod verborgen werden, wird zum heimlichen Tod, weil er gemein und schmutzig ist, oder, wie Sartre es so schön in „Die Mauer“ formuliert hat: Die angeblichen Helden scheißen sich in die Hosen, und die wahren Helden sind zunächst einmal damit beschäftigt, alles zu tun, damit es ihnen nicht ebenso geht.




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  • Das rasche Wachstum in Sachen Komfort, Intimität und persönlicher Hygiene hat uns alle empfindlich gemacht: ohne dass wir etwas dafür könnten, ertragen unsere Sinne nicht mehr die Anblicke und Gerüche, die, im Verein mit dem Leiden und der Krankheit, zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Bestandteil der Alltagswirklichkeit waren. Die physiologischen Begleiterscheinungen des menschlichen Lebens sind aus der Alltagwirklichkeit ausgebürgert und in die aseptische Welt der Hygiene, der Medizin und der Sittlichkeit verwiesen worden. Und diese Welt hat ein exemplarisches Modell: das Krankenhaus mit seiner Zellendisziplin.

 


Das Zimmer des Sterbenden hat den Ort gewechselt und ist aus dem eigenen Zuhause ins Krankenhaus verlagert worden. Diese Verlagerung wird von der Familie gebilligt und befürwortet.




  • Das Krankenhaus ist heute der einzige Ort, wo der Tod noch mit Sicherheit einer inzwischen selbst als unschicklich geltenden Öffentlichkeit (oder dem, was davon geblieben ist) entrinnen kann. Deshalb wird das Krankenhaus auch zum Ort des einsamen Todes.

 


 


Ein Herzstillstand macht keinen Lärm. So ist der Tod den Menschen des 20. Jahrhunderts lieb. Ruhig, verborgen, am besten weit vom eigenen Alltag und Leben entfernt. Selbst wenn ein Tod in der Familie auftritt, wird er abgetan, als hätte er sich auf das eigene Leben so gut wie gar nicht ausgewirkt. Die Menschen machen weiter und sind stolz darauf, wenn sie es hinbekommen, ihre Trauer zu verbergen und den Tod darin mit starkem Willen zu verkraften.

Auch die Hölle verschwindet ganz und gar aus den Vorstellungen der Menschen. Das Paradies ist eine Gegend, wo man keine Sorgen mehr hat, die Hölle beschränkt sich auf die hiesige Welt, aus der die ewige Verdammnis entschwunden ist. Man beruft sich darauf, lieber den Lebenden beizustehen als den Toten, eine neue religiöse Mentalität von nützlicher Tat und Kontemplation über den Tod.
Kurz: Der Tod wird verdrängt. Einmal wird er von denen, die mit dem Tod eines Menschen konfrontiert werden, wie eine ansteckende Krankheit aus Trauer und Mitleid empfunden, zum anderen gilt es, sich zusammennehmen zu müssen, die Trauer nicht öffentlich zur Schau zu tragen, denn im 20. Jahrhundert ist zu viel Trauer der Ansatz einer Nervenkrise. Wer trauert, sollte ärztliche Hilfe aufsuchen, statt sich gehen zu lassen.
Man sagt, ein Mensch hätte einen starken Willen oder Charakterstärke, wenn er seine Trauer nicht zum Ausdruck bringt und lobt ihn noch dafür, dass er seine Traurigkeit geheim hält. Der Tod ist komplette Verdrängung geworden und hat in der geordneten Gesellschaft keinen Platz mehr. Aber schon Freud und andere haben auf die Gefahr verwiesen, die unterdrückte Trauer auslöst, den Unterschied zwischen Trauer und Melancholie deutlich gemacht. In der Gesellschaft ist Trauer morbide, während Psychologen natürlich die Verdrängung der Trauer für die Ursache der Morbidität halten. Trotzdem muss der Trauernde lernen, die Abwesenheit des Gestorbenen zu verkraften, „seine noch auf den Lebenden fixierte Libido „in sein Ich zurücknehmen“ und so den Verstorbenen „interiorisieren“. Störungen dieser „Trauerarbeit“ treten auf, wenn der Leidtragende stattdessen seinen Toten mumifiziert oder wenn ihm umgekehrt das Gedenken an ihn verwehrt wird.“

Ariès sagt, dass das Modell, das die Psychologen für naturgegeben halten (das langsame Verarbeiten der Trauer), historisch nicht weiter als ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Es ist das Modell des schönen romantischen Tods und der Friedhofsbesuche, das wir den „Tod des Anderen“ nennen.
Die Natur hat damit kaum etwas zu tun.


Durch den Fortschritt in Medizin und Technik wird das Sterben grundsätzlich zu einem Krankenhausaufenthalt, in dem nicht nur der Tod manchmal über die Maßen (durch künstliche Verlängerungen) hinausgezögert wird, sondern dabei auch zum Fehlschlag gerät.




  • Wenn der Tod eintritt, wird er als Zwischenfall aufgefasst, als Zeichen ärztlicher Unfähigkeit oder Ungeschicklichkeit, das es schleunigst zu vergessen gilt. Er darf die Krankenhausroutine nicht stören, die so viel anfälliger ist als die jeder anderen Arbeitswelt. Er muss also diskret sein, auf Zehenspitzen kommen.

 



Die Dauer des Todes hängt von nun an von einem Zusammenspiel zwischen Familie, Krankenhaus und Justiz (z. B., wenn sich Ärzte weigern, bei einen Komapatienten, der nie wieder aufwachen wird, die Gerätschaften abzuschalten, dass die Familie vor Gericht gehen muss) oder von einer souveränen Entscheidung des Arztes ab. Der Sterbende dankt langsam ab und überlässt seiner Familie die Entscheidung über das Ende seines Lebens. Wenn man sich, zum Vergleich, noch einmal die erhabene Geste eines Menschen des Mittelalters vor Augen führt, der den Tod spürt, sich langsam und ohne Angst darauf einstimmt, dann ist dass wirklich eine irgendwie traurige Entwicklung.




(Alle Zitate stammen aus der Ausgabe - Philippe Ariès "Geschichte des Todes", dtv wissenschaft)






© Annelie Jagenholz