Teil 2

 

(Die Isaakkathedrale)

5.

 
 

Jeder Tag ist an und ausgefüllt mit Sehenswürdigkeiten und Betrachtungen, mit Stadtgang und Stadtfahrt, mit weißen Nächten, Feuerwerken, Zarenreichtum und einer Gier, am liebsten alles auf einmal betrachten zu wollen. Doch die Stadt ist zu groß, birgt zu viele Besichtigungsorte, die weit von einander entfernt liegen.

 

Am besten fährt man zuerst zum Newski Prospekt, er liegt sehr zentral, von dort gelangt man ziemlich schnell an die ersehnten Orte. Schreitet man Richtung Eremitage und gelangt zur Newa, findet man dort etliche Museen wie die Kunstkammer, Peter und Paul-Festung, die Isaakkathedrale usw.
Das Denkmal von Peter dem Großen, das in der Nähe der Isaakkathedrale liegt, erinnert mich stark an das von Alexander dem Großen in Thessaloniki. Die Haltung von Pferd und Reiter sind fast identisch. Nur auf Stein schleicht sich bei Peter dem Großen eine gewaltige Schlange heran.

Mein Blick ist wie ein Magnet, nimmt auf und auf, fast ohne zu verarbeiten, und auch jetzt, wo ich wieder zurück bin und allmählich zur Ruhe komme, treiben diese Bilder immernoch genauso intensiv am inneren Auge vorbei, legen sich langsam als Erfahrung und Erlebnis und prägen sich als Erinnerung ein. Meine Waden sind wie aus Stein gemeißelt. Ich habe das Gefühl, noch nie in meinem Leben so viele Strecken so schnell gerannt zu sein. Die Zeit hat sich gedehnt, hat sich irgendwie den Auswüchsen dieser Stadt angepasst. Jetzt, wenn ich so sitze und zurückdenke, erscheint mir das alles so unwirklich, so weit entfernt und gleichzeitig auch immernoch so nah, so voller Leben und Sein.

Ein buddhistisch „leerer Kopf“ lässt sich in dieser Stadt zumindest nicht lange aufrechterhalten, zu viel wirkt und schlägt regelrecht auf einen ein. Apropos „Einschlagen“: die Präsenz der Miliz und der Schlägertruppe von Putin, die sich OMON nennt und zu denen gehört, die erst prügeln und dann fragen, wenn sie überhaupt fragen, ist stark und erschreckend und beherrscht die gesamte Stadt.

(Die Miliz, in dieser Form fast überall vertreten.)

 

Diese Herden an Uniformierten sind natürlich in erster Linie wegen der weißen Nächte so massenhaft unterwegs, dennoch erahne ich in dieser Bewachung eine Gewohnheit, die einen von der Polizei durchkreuzten Kontrollstaat wie Deutschland eher blaß erscheinen lässt. Hier spürt man eine andere Gewalt, eine, die nicht fragt, bevor sie den Knüppel schwingt, die nach anderen Gesetzen lebt und handelt (die wir vielleicht in einigen Situationen sogar gesetzlos nennen würden). Auch das werde ich noch zu spüren bekommen, wenn diese eine bestimmte Nacht zu erleben und schließlich auch regelrecht zu überstehen sein wird.

Die Polizeiautosirene klingt wie ein überlautes und lästiges Orgelspiel als eine Art Melodie, so dass man die Sirene von überall quer durch die Stadt vernimmt, völlig gleichgültig, wie weit man entfernt ist. Es wirkt auf mich, als ob ein übereifriger Achtzehnjähriger mit seinem Auto vorfährt, um an seinem Wohnort vor Freunden mit seiner neu eingebauten Anlage anzugeben. Die Polizisten hier handeln ähnlich. Wenn sie ihr Gedudel durch die Stadt jagen, ist das durchaus nicht immer ein Zeichen dafür, dass sie augenblicklich zu einem Unfall- oder Gefahrenort eilen, sie stehen mit laufender Sirene und halten mit irgendeinem Menschen ein Schwätzchen, der sich durch ihr Fenster beugt. In anderen Situationen rast dann ein Polizeibus vorbei und lässt einen mit einem Klingeln im Ohr zurück, bis die gewöhnlichen Geräusche der Stadt nach und nach in den Gehörgang zurückfinden.

 

 

6.

Die Bewohner von St. Petersburg sind sehr genügsam und in dem, was sie tun und arbeiten, manchmal auch sehr schwerfällig. Man vermisst eine Logik in den Vorgängen und Handlungsweisen, eine Notwendigkeit oder Richtung. Mit Effizienz kann man schon gar nicht rechnen, und ein gewisser Ehrgeiz ist bei diesen kläglichen Löhnen natürlich kaum zu erwarten.

Meine Großmutter ist der festen Überzeugung, dass es nicht anständig ist, sich über Fehler aufzuregen oder die jeweiligen Beamten, auf die man so in ihrem Tran trifft, darauf anzusprechen, und damit teilt sie wohl die Meinung vieler Menschen. Es schickt sich nicht, auf sein Recht zu pochen oder die Stimme zu erheben, man soll die Menschen einfach machen lassen, gleichzeitig kommt der Verdacht auf, dass viele gar nicht wissen, was „Recht“ überhaupt ist. Sie treiben in diesen Lebenskonstellationen, durch all die Jahre tief geprägt, wie demütige, träge und anspruchslose Menschenplaneten, die schon froh sind, wenn die Schlange, in der sie stehen, voranschreitet, die Papiere, die sie ausfüllen, einen Stempel tragen, das Brot nicht teurer wird. Sie ergeben sich völlig den Situationen, auf die sie Tag für Tag treffen, und wenn Stunden dafür verloren gehen, dann ist das eben so. Die Russen sind es gewohnt, zu warten. Wo sie früher für Nahrungsmittel, Benzin und Kleidung anstanden, warten sie nun auf die Unkompetenz mancher Berufstätigen. Als ob, sobald der Arbeitsantritt erfolgt, dieses Volk das eigene Denken ausschaltet, nur noch handelt und erst wieder auflebt, wenn es Feierabend hat. Dazwischen verwandelt es sich von lebendigen Geschöpfen in mit Lumpen bekleidete Fleisch-Maschinen, (sie sind irgendwie viel zu menschlich, als dass man von Apparaten oder Maschinen sprechen könnte, gleichzeitig aber handeln sie, als müsste jemand bei ihnen den Schalter umlegen), solche eben, die Gewohnheit benötigen, für die es fatal ist, wenn irgendetwas mal anders läuft oder nicht in den natürlichen Ablauf passt.

Da kaufte ich an einem Tag Ölfarben in einem kleinen Künstlerladen, der unscheinbar in einem baufälligen Hinterhof lag, und als ich mich erkundigte, was ich zum Fixieren nehmen könnte, da fauchte mich der Verkäufer an, dass hier nur verkauft, nicht unterrichtet werde. Ich bekam an der Kasse, zu der ich die zwei Meter weiter mit einem Bon geschickt wurde, einen eigenartigen Studentenrabatt. Als ich den Laden verlassen wollte, entschloss sich der Verkäufer dann doch noch, mir ein bisschen „Unterricht“ zu erteilen und begann verschiedene Spraydosen hochzuhalten, die aber alle für Pastell benutzt werden, nicht für Ölbilder. Ich winkte ab, nachdem ich ihm mehrmals erklärt hatte, dass er sich irrte und er weiterhin darauf bestand, dass das irgendwie schon gehen würde, und machte mich aus dem Staub. Auch ein Zeichen, dass „Service“, das normale Beraten durch den Verkäufer, hier eher ein Fremdwort ist. Später, als ich die Ölfarben in ihrem Kasten dann öffnete, musste ich dann auch noch feststellen, dass mehrere Tuben sich voneinander unterschieden, kein einheitliches Bild ergaben und zwei Farben ganz fehlten. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, sagte einst Lenin. Der wusste schon, warum.


Ich wunderte mich schon am ersten Tag über diesen gewissen (Galgen) Humor, als ich über Schlammwege hinweg die Poststelle aufsuchte, die von außen nicht einmal wie ein Haus aussah, sondern eher wie eine zerfallene Baustelle, mit einer Tür versehen, durch die gerade einige Männer mit Bierfl
asche in der Hand traten, um die erforderlichen Anmeldepapiere abzuholen. An der Wand klebten Plakate, auf einem davon starrte Putin streng herab, während darunter stand:


„Arbeitet lieber! Ich sehe euch sowieso!“


 
 
Dort gab es drei Schalter, wobei der für mich nützliche gerade nicht besetzt war. Nichtsdestotrotz standen davor Menschen, eine korpulente Frau, ein grau blasser Typ, dessen Kleidung wirkte, als entstiege er gleich mehreren Kriminalfilmen auf einmal oder einem Patchworkteppich, als eine Gestalt, die sich selbst irgendwie mehr schlecht als recht zusammengesetzt hat, der mit zu großem Militärmantel und französischer Baskenmütze ausgestattet, an den Füßen Sandale trug, durch die dicke Socken quollen. All das war wohl irgendwie zusammengesucht, als eine Art neuartiger Stil verschiedenster Geschmacksnuancen und Zeitabschnitte. Er hielt seinen Koffer fest umklammert, den er mit einem Seil umwickelt hatte, um ihm Festigkeit zu verleihen.
Figuren, wie aus einer Geisterbahn, die so sehr in das Gesamtbild passten, dass man sich wie in einem Film fühlte, wobei der im Militärmantel wirklich kaum lebendig wirkte, weil sein Gesicht fast durchsichtig schimmerte. Vielleicht ein Drogenopfer oder ein übersensibler Typ, der möglicherweise kurz vorm Abnippeln war. Wenn er stand und vor sich hinträumte, wusste man nicht, ob er Mensch oder Wachsfigur war. Hinter ihm, im Sprung durch den Raum, stand einer der Männer, die zuvor mit der Bierflasche eingetreten waren. Dieser irrte in seinem Rausch von Schalter zu Schalter, stellte sein Bier mal hier und mal da ab, nahm es wieder auf, trank zwischendurch einen Schluck aus der Flasche, brüllte, wo denn nun die Postangestellte wäre, lachte und gurgelte, dass er keine Zeit hätte, während die anderen Anwesenden bedächtig nickten. Und doch, während man zwischen all diesen Menschen stand, spürte man den ihnen tief einverleibten und gewohnten Ablauf solcher Alltagsnotwendigkeiten.
 

Irgendwann drehte sich dann auch die dicke Frau um und röhrte quer durch den Raum, dass sie nun schon zwanzig Minuten hier wartete und ob die Pause der Postangestellten denn nun langsam vorbei wäre. Schon schleppte sich ein träges und mürrisches Mädchen heran, die Backen aufgeplustert, was ihr ein mongolisches Aussehen verlieh, tat dabei, als ob man sie belästigte, fragte, was denn nun gewollt würde, bis die Schlange sich dann im Erfüllen der hoch angesetzten Wünsche (wie das Abschicken eines Briefes oder der Kauf eines Pakets) nach und nach verkleinerte.
Der blasse Typ mit seinem Koffer, verwandelte sich vor mir, als er an der Reihe war, in einen schlaksigen Hampelmann, machte einige abgehakt verrenkte Bewegungen, vor und zurück, als kippe er jeden Moment aus den Latschen, wobei er in jeder Position sekundenweise verharrte, beugte sich zu der Mürrischen und knurrte sie in eigenartig abwechselnder, leise und laut werdender Stimme an, als ob man ihm jeweils ein Mikrophon vor die Nase hielt und wieder entzog, sie würde schon sehen, diesmal wären sie schuld, nicht er, er würde dafür sorgen, dass die Dinge aufgeklärt werden, das sei kein Zustand. Der Fehler läge bei der Post, er würde diesmal die Konsequenzen nicht alleine ausbaden. Damit drehte er sich um und verließ den Raum, während die Pausbackige nur träge mit den Schultern zuckte und ihre Lippe kurz wulstig zusammenwölbte. Einige Sekunden später tauchte er schon wieder auf, irrte rastlos hin und her, unentschlossen, was zu tun sei, dabei immer mit diesen abgehakten Bewegungen, und mir schoss durch den Kopf, dass der Koffer vielleicht einen Inhalt barg, der sich gefährlich auf das Postamt samt seiner wartenden Menschen auswirken könnte. Genau so stellt man sich diese Typen vor, die, ohne Vorwarnung, auf einmal bedingungslos in die Menge ballern, weil ihnen alles genommen wurde o
der der Hass auf die Menschen die Vernunft ausschaltet. Er aber schmiss schließlich nur die Tür hinter sich zu und stampfte dann wohl nach Hause oder ins nächste Magazin, um sich eine Flasche zu besorgen. (Wodka kostet in etwa umgerechnet ganze drei Euro.)

 


Die Menschen trinken hier häufig auf der Straße. Als ich an einem der Tage etw
as einkaufen ging und auf einem mit Gebüschen überwucherten und nicht asphaltierten Schleichweg zurückkehrte, blockierte dort eine ganze Familie - Mutter, Vater, Sohn - den Weg, weil sie auf Ex eine ganze Flasche auf einmal leerten. Mit den Betrunkenen hat man hier Mitgefühl. Man beachtet sie nicht, aber duldet sie. Gerade zu den Feierlichkeiten der weißen Nächte trifft man häufig auf derlei schwankende Gestalten. Die Flasche Bier in der Hand ist genauso üblich, wie die Handtasche am Arm der Frau.

 
 


Endlich waren die notwendigen Papiere ausgehändigt, jedoch nur ein Exemplar, und da wir zu dritt waren, musste man selbstständig Kopien anfertigen, um dann auch drei Exemplare ausfüllen zu können. Es schien glatt unmöglich, dass die Postangestellte drei leere Exemplare aushändigte. Sie sah mich an, als wäre die Frage und mein Bedeuten, dass ich drei benötigen würde, völlig absurd. So gelangte man eine Tür weiter in das nächste Büro, von dem man nur ahnen konnte, um was es sich handelte oder wenigstens jemanden zur Hand haben musste, der sich auskannte.
Auch hier gab es wieder einen Schalter, einen Mann vor dem Schalter, schon den Arm aufgestützt, im Zeichen dafür, dass er Zeit hatte oder ihm schon einiges an Zeit genommen war, und hinter der Glaswand eine Frau, die mit russischer Geduld versuchte, ein Fax zu schicken.
Zwei weitere ältere Frauen standen zunächst, setzten sich dann und gingen. Das Fax aber wollte sich nicht verschicken lassen. Ein Mann kam kurz herein, winkte und rief, er bräuchte nur ganz kurz eine Kopie. Das gleiche Anliegen hatte ich, doch die Frau hinter dem Schalter verkündete ganz gelassen:
 

„Ist mir völlig egal. Ich versuche jetzt zwanzig Minuten das Fax zu schicken. Ob es klappt oder nicht!“
Damit setzte sie das Drücken des Knopfes fort, unfähig, dazwischen kurz einen anderen Arbeitsablauf einzufügen, wie ein Blatt nehmen, es auf den Kopierer zu legen, es zu kopieren und sich dann wieder dem Fax zuzuwenden, um einen nächsten Versuch zu starten, eine Minute also zu füllen, die sowieso ablief, ohne dass sie etwas am Fax ausrichten konnte, es benötigte ja seinen üblichen Wählvorgang. Ich schaute ihr dabei eine Weile fast schon fasziniert zu. Sie stand und wartete, ohne sich durch Blicke oder Rufe stören zu lassen, als verlange ihr Tun größte K
onzentration. Der Mann hinter mir rief:
„Mit euch erlebt man auch immer wieder etwas Neues!“
... und verließ den Raum. Auch mir verging allmählich die Lust, zwanzig Minuten beim Knopfdrücken zuzusehen, so verschob ich das Kopieren auf ein anderes Mal.

Kurz denkt man natürlich an all die Menschen, die tagtäglich auf derlei Unkompetenz treffen und dann auch noch darauf angewiesen sind, die keine Ausweichmöglichkeit haben. Die meisten besitzen kein Auto, und in dieser Gegend gab es nur gewaltige Schlaglöcher, Schlammwege und zerfallene Bauten. An allem zeigt sich die Armut, das Abgerissene der Kleidung, die müden und häufig alten Gesichter.
Die Umgebung, in der meine Großmutter in gleichen Verhältnissen lebt, ist ein einzigartiger und brüchiger Zerfall, Häuser mit rostigen Türen, in deren Treppenhäuser der Uringestank Brechreiz auslöst, wobei man nicht ausmachen kann, ob er von Tier ode
r Mensch stammt. Das Begehen der Treppen ist eine Herausforderung für sich, wenn manchmal die Kanten so abgerundet oder zersplittert sind, dass man kaum einen Fuß darauf setzen kann. Die Lebensmittel werden in kleineren Magazinen besorgt, die jenseits von Gut und Böse sind, häufig in irgendwelchen Kellern liegen oder in eben diesen Gebäuden, die mich an Bau- oder Wohnwagen erinnern, in denen alles eng und stickig ist und manchmal riecht, als würde man ganz andere Ortschaften aufsuchen. Immerhin aber hatten manche von ihnen 24 Stunden lang geöffnet.

Nach diesen Erfahrungen mit der Post und dem vorerst misslungenen Kopierversuch ging es weiter zur Bank, um das Geld zu bezahlen, damit die Anmeldung überhaupt abgegeben werden durfte. Dort bekam man einen Beleg, damit die Postangestellte, auf die man sich dann irgendwie schon mit Schrecken freute, überhaupt im nächsten Schritt handeln konnte. Wie schon erwähnt, es herrscht keinerlei Logik in den engstirnigen Abläufen. 

Daran muss man sich in Russland sowieso gewöhnen. Alles erfolgt wohl schon seit Jahren nach bestimmter Regelung, die, egal was auch geschieht oder wie sehr sich die Umstände wandeln, nicht unterbrochen oder verändert wird. Nur ansprechen darf man derlei Unbequemlichkeiten nicht, allgemein nicht, auch nicht im privaten Umfeld, dann erwacht der allseits stark verbreitete russische Stolz und das Ausland wird Wort für Wort, manchmal mit starken Übertreibungen, zerfetzt und verspottet. Die Russen schimpfen häufig auf die eigenen Zustände, denen sie unterworfen sind, doch wenn ein Fremder zu schimpfen wagt, dann gibt es eine Art Zwei-Welten-Denken, dann ist das, was ihr Land ist, von außergewöhnlicher Schönheit und Wohlhabenheit, voller Gerechtigkeit und Güte.
Nur ganz kurz streifen dann bestimmte Orte oder Menschen durch das Gedächtnis, die man dann auch schnell wieder verwirft ...

       

 

 
 

 … oder zumindest durch die Allmächtigkeit ehemaligen Reichtums ersetzt.

(Eremitage innen.)

 

Ja, wirklich schön ist diese Stadt, ein wahres Fest für die Augen jedes Besuchers, nur fragt sich, wem nutzt all diese Pracht, die im Krieg gnadenlos zertrümmert wurde, wo ganze Zimmer geklaut und verschwunden waren, wo all diese Herrlichkeit einstiger, zaristischer Herrschaft immernoch nicht bis in die Wohnzimmer der Bevölkerung reicht.

In der Bank nun zieht man eine Marke und wartet, bis man aufgerufen wird. Nach dreißig Leuten kam man endlich an die Reihe, bewegte sich zum Schalter und musste dann der Bankangestellten erklären, was zu tun war, nicht umgekehrt. Sie wusste weder, wie hoch der Preis war, noch was es mit dem Dokument, welches auszufüllen ist, nun genau auf sich hatte. Nach mehreren Minuten war dann alles irgendwie geregelt, zumindest hatte man schon einmal das Geld b
ezahlt und einen Beleg erhalten. Doch wer nun glaubte, man könnte auf einmal zwei verschiedene Dinge gleichzeitig erledigen, wie in diesem Fall noch Geld wechseln, der war doch eher leichtgläubig, die Dame am Schalter war natürlich für den nächsten Akt nicht verantwortlich und deutete auf einen weiteren Schalter. Bei der Erkundigung, ob es möglich sei, einfach hinüberzugehen, wurde erläutert, dass es erforderlich wäre, eine weitere und neue Marke zu ziehen, was in Anbetracht der Menschenmenge zu ersten, tief überzeugten Seufzern bei mir verführte, die ich kaum unterdrückte.
Gut, man gewöhnte sich schließlich a
n alles, durch die Häufigkeit der Ereignisse dann auch umso schneller, und die Zeit verflog an solchen Orten sowieso irgendwie rasend genug, so wurde nun mit dem nächsten Märkchen aufs Neue gewartet. Die Nummer wurde aufgerufen, jedoch durften erst noch mehrere andere Menschen ihre Marke vorlegen, da sie zusätzlich einen Chip in der Hand hielten, den sie auch alle eifrig vorzeigten. Als ein zaghaftes Wissenwollen, was es damit auf sich hatte, wurde begründet, dass der einzige Geldautomat der Bank gerade ausgefallen war, was bedeutete, dass all die, die einfach nur Geld abheben oder wechseln wollten, erst einmal vorgelassen wurden, während auch sie sich dafür zuvor an einen wiederum ganz anderen Schalter begeben mussten, um besagten Chip zu ergattern.
Mit dem leichten Erschöpfungszustand solcher Bedingungen stand man also weiter vor diesem Schalter, als ein Mann an die Reihe kam, der einen ganzen Beutel voller Scheine auf der Theke ausschüttete. Diese Wertlosigkeit des Geldes, dass hundert Rubel gerade einmal 2,60 Euro waren, was einen Wust an Scheinen mit sich herumzuschleppen erforderte (ich erinnere mich an eine Zeit, als ein Rubel einen Wert von etwa drei Mark hatte) ist schon bekümmernd. Ganz am Anfang dachte ich noch, dass die Russen ihre Münzen als Glücksbringer und Wunscherfüllung überall auf die Straßen und in die Gewässer warfen, wie man es in Rom beim Trevi-Brunnen tat. So kann man sich irren.

 

Der Mann ließ also jenes Geld zählen, als die Angestellte ihm mit reglosem Gesicht erklärte, dass von dem Geld die Hälfte Falschgeld sei. Der Mann, ebenso reglos, erkundigte sich daraufhin, wo er das Falschgeld denn noch umtauschen könnte. Die Bankangestellte zuckte mit den Schultern und meinte, dass Falschgeld wohl nirgendwo angenommen würde. Schon spürte man die erste Unruhe des Mannes, der von Touristen redete, die ihn über das Ohr gehauen hätten.
„Ich kann Ihnen nur das echte Geld wechseln!“ zischte die Angestellte, zählte das Geld und händigte ihm sein Falschgeld lustlos wieder aus.
Lehrreich genug. Es gab in der Bank schon allerlei „Umstände“, so wollte ein alter Mann seine monatliche Rente abheben, als die Bank ihm mitteilte, dass sie keine Geldscheine mehr vorrätig hätte, er sich bis zum nächsten Tag gedulden müsste. Der Mann sagte, dass er das Geld ganz dringend benötigte. Die Bankangestellte gab daraufhin an, dass bis zum Abend kein Geld
mehr eintreffen würde.

So musste der Alte dann einen weiteren Tag hungern.

 

 Hier zeigt sich dann, dass sich das vor 134 Jahren von Dostojewski in seiner Zeitschrift „Tagebuch eines Schriftstellers“ formulierte Bild des hiesigen Beamten kaum verändert hat. Er schrieb:

 

„Jedermann weiß, was ein russischer Beamter ist, besonders einer, der tagtäglich mit dem Publikum zu tun hat: Er ist etwas Böses und Gereiztes, und wenn die Gereiztheit manchmal auch nicht zutage tritt, so kann man sie doch immer im Gesicht lesen. Er ist hochmütig und stolz wie ein Jupiter. Das sieht man besonderes bei den allerkleinsten Beamten, zum Beispiel solchen, die dem Publikum Auskünfte erteilen, Geld in Empfang nehmen, Fahrkarten ausfolgen usw. Sehen Sie ihn sich nur an, er ist gerade beschäftigt, ist „bei seiner Tätigkeit“: Das Publikum drängt sich in einer Polonaise, ein jeder will möglichst schnell seine Auskunft, Antwort, Quittung, Fahrkarte bekommen. Er aber schenkt ihnen nicht die geringste Beachtung. Endlich kommen Sie dran, Sie stehen vor ihm, Sie sprechen zu ihm – er rt Ihnen gar nicht zu, er sieht Sie nicht an er hat den Kopf weggewandt und spricht mit einem hinter ihm sitzenden Beamten,; er nimmt irgendein Papier in die Hand und sieht etwas nach, obwohl Sie den sicheren Verdacht haben, dass er bloß so tut und gar nichts nachzusehen braucht. Sie sind jedoch bereit zu warten, da erhebt er sich geht weg. Plötzlich schlägt die Uhr, die Amtsstunden sind zu Ende. Publikum, scher dich!“

 

(… zitiert aus Dostojewski „Tagebuch eines Schriftstellers“, Juli bis August 1876)

 

 

Wenn sollte es da noch wundern, dass sich diese alten Mechanismen erhalten haben, wahrscheinlich von Beamte zu Beamte und Erfahrung zu Erfahrung weitergetragen haben? So, wie Dostojewski den Beamten beschreibt, so trifft man ihn tatsächlich überall an. Unhöflich, genervt, feindselig, grob und unaufmerksam, immer mit dem Gesichtsausdruck, als würde man Unmögliches von ihm verlangen, wenn man ihn bittet, höflichst seiner Arbeit nachzugehen.

Dagegen sind die, die etwas möchten, die, die vor dem Schalter stehen, grundsätzlich alle sehr höflich und entgegenkommend. Sie warten mit Geduld und Ausdauer, hier noch mit ernsten Mienen, treten dann, wenn sie an der Reihe sind, hurtig vor und wispern in süßester Stimme, was ihr Begehren ist; als würde ganz kurz eine andere Platte aufgelegt werden, um durch eine andere Melodie irgendwie den Beamten zu erreichen, gar aufzutauen. Lässt sich der Beamte mit seiner sauertöpferischen Miene herab, kurz und bündig zu antworten, was selten vorkommt, geschweige denn den eigentlichen Kern der Bitte berührt, die vom Gegenüber vorgebracht wurde, dann verwandelt sich das zuckersüße Lächeln der Bittenden sofort wieder in steinernen Ernst. Sie ziehen eine Wartemarke und reihen sich wie träge Schatten in die nächste Schlange ein.

Lust und Frust. Herrlichkeit und grau düsterer, urtypisch russischer Alltag. Da muss man oftmals wirklich mehrere Augen zudrücken oder die übermäßigen Seufzer unterdrücken. Es ist eine Herausforderung an den Verstand und die Geduld. Das Geld wechselte ich dann schließlich am nächsten Tag. Die Schlange der Menschen mit dem Chip in
der Hand war einfach zu gewaltig, obwohl auf der Anzeige seit einer halben Stunde in roten Ziffern meine Nummer leuchtete. Ich wusste nun einmal, dass es durchaus vorkommen konnte, dass man bis Ladenschluss wartete und dann ganz einfach nicht mehr an die Reihe kam. Das wollte ich dann doch nicht erleben.

 

Aber das russische Chaos schleudert weiter, entfaltet eifrig seine etlichen Dimensionen. So sind zum Beispiel die Preise für den Besuch all der Sehenswürdigkeiten unterschiedlich hoch. Die Russen zahlen z. B. in der Eremitage 100 Rubel, Touristen dagegen 400 Rubel. Die Preise, obwohl schon ungleich, sind also nicht einmal nur verdoppelt, sondern gleich vervierfacht, und zwar überall. Ob man nun den Winterpalast, die Kunstkammer, das russische Museum, irgendeine Kirche, irgendeinen Friedhof betreten will oder direkt nach Puschkin fährt, überall herrscht die gleiche „russische Gerechtigkeit“. Dazu zahlt man dann noch einen Aufpreis, falls man Fotos machen möchte, wobei man natürlich nicht in allen Räumen Fotos machen darf. Schilder verweisen darauf, ob ohne Blitzlicht fotografiert werden darf oder eben ein allgemeines Verbot herrscht.

 

Man hat Glück, wenn man einen Einheimischen an der Seite hat, der versuchen kann, russische Preise zu bezahlen, während man selbst irgendwo leicht abseits steht und sich hüten sollte, zu reden. Wie leicht haben sich Menschen hier schon verraten, weil sie nicht unmittelbar vor dem Eingang, sondern viele Meter vor den jeweiligen Besichtigungsorten ganz unbedacht in ihrer eigenen Sprache sprachen und von irgendeinem Mitarbeiter entlarvt wurden, der extra dafür engagiert ist, um die Besucher zu belauschen. Da kann man sich dann an der Kasse noch so sehr zurückhalten, man trifft nur auf ein Kopfschütteln und muss die „andere Summe“ zahlen.

 


In der Eremitage wird mittlerweile auch ein Ausweis verlangt, man kann also so oder so nicht tricksen. Wer keinen russischen vorlegen kann, zahlt wuchernde Touristenpreise.
Die Russen erklären diese Festlegung der Preise dadurch, dass sie selbst eben weniger Geld verdienen würden als die Touristen. Nur besuchen eben nur Russen mit Geld die Prachtbauten und Ausstellungen, die arme Bevölk
erung sieht man auf jenen Marmorböden und Vorplätzen selten.

 

 

 

 (Vorplatz der Eremitage)

 

 

 


 

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Teil 3