Eindrücke aus St. Petersburg
von

Annelie Jagenholz



Mit der Besichtigung einer Stadt
glaubt man, sie zu sehen.
Alles, was ich jedoch sah,
war mein eigener Eindruck von dieser Stadt.
Und so bleibt sie in meinem Herzen.

1.

 

(Blick von der Peter und Paul Festung über die Newa auf die Seite, wo die Eremitage rechter Hand zu erkennen ist.)

 

„Nicht wie eine europäische Stadt
Mit dem ersten Preis für Schönheit
Sondern wie's drückende Exil am Jenissei,
Wie eine Versetzung nach Tschaita,
Zum Ischim, ins trock'ne Irgis,
Ins berühmte Atbasar,'
Zum Vorposten Swobodn
Zum Leichengestank faulender Koje
So erschien mir diese Stadt
In jener Mitternacht, hellblau -
Diese Stadt, gefeiert vom ersten Dichter,
Von uns Sündern und von dir.“


(Gedicht von Anna Achmatowa für Ossip Mandelstam über Leningrad)


 
 

Sollte man die Stadt St. Petersburg in ein Wort fassen, so würde ich spontan sagen: mächtig. Gleich danach käme mir das Wort: überwältigend in den Sinn, aber vielleicht auch nur, weil mein Auge dermaßen gebläht, mein Hirn so viel Stoff angesammelt hat, dass es mir nun wie eine kleine Ohnmacht in der Rückkehr erscheint. All das rattert wie eine Filmsequenz durch meinen Geist, wuchtet ein Bild nach dem anderen zu einem Gedanken, dass all das nun zu ordnen eine glatte Herausforderung ist und gleichzeitig so leicht von der Hand geht. So will ich es gerne versuchen.

St. Petersburg ist eine Stadt, scheinbar gebaut für Riesen. Man fühlt sich kaum als Mensch, mehr als eine Ameise, die versucht, in dieser Überdimensionalität zu überleben. Beschreitet man die Straßen, kommt man kaum voran. Die Macht des Zaren, des Staates, des Häuserbaus. Geschäfte, Reisebüros, Banken sehen im Zentrum aus wie riesige Bahnhofshallen, Gebäude mit hohen Rundbögen, Säulen, gewaltigen Eingängen. Die Newa, breit und der Stadt als mächtiger Fluss in seiner Größe angepasst, fließt unter Brücken hindurch und trennt den Winterpalast, der sich über die ganze Seite in grün elegantem Anblick erstreckt, von der Kunstkammer, Peter-Pauls-Festung und einige Kilometer weiter auch von dem berüchtigten Kresty-Gefängnis, in dem u. a.  Solschenizyn oder der Sohn von Anna Achmatowa einsaßen:

 

Ich klag nicht für mich allein,

 

Ich klag für alle, die da standen mit mir,

 

In grausiger Kälte, in der Sonnenglut des Juli,

 

Unter der blindgewordenen roten Mauer.

 

(Achmatowa, Epilog I aus „Requiem“ – Übersetzt von Wolfgang Hässner)

 

… wo etliche Menschen gequält und gefoltert und durch stalinistische Anweisung in die Gulags verschickt wurden, gemahnt durch zwei Statuen als eine Sphinx mit doppeldeutigem Gesicht. Während die Seite der Sphinx zur Stadt hin gesund und satt aussieht, ein halbes menschliches Gesicht, ein gut genährter Tierkörper, so ist die Seite zum Fluss und zum Gefängnis hin als ein Totenkopf und Skelett dargestellt, als Sinnbild für die Scheinheiligkeit der Ereignisse.

 

 

 

In der Achse beider Statuen steht ein Denkmal von Anna Achmatowa, die in jener Haltung dargestellt ist, in der sie tagtäglich dort anzutreffen war und mit der sie auf das Gefängnis blickte, um ihrem Sohn in der Gefangenschaft vom Ufer aus beizustehen. Viele Tafeln zitieren Gedichte und Gedanken verschiedener Schriftsteller zu den Ereignissen. Sollte man einmal, sagt die Dichterin, in diesem Land ihr eines Tages ein Denkmal setzen wollen, dann nur unter einer Bedingung:

 

… nicht dort am Meer, in Zarskoje Selo, sondern hier, wo ich dreihundert Stunden gewartet hab und wo sich kein Riegel auftat.

 

(Epilog II in „Requiem“ – übersetzt durch W. Hässner)

 

 

Ein leichter Schauer der Kälte überfällt mich, als ich auf die roten Backsteine in der Ferne blicke und versuche, mir auszumalen, was sowohl die Menschen in den Schlangen, die einander abwechselten, wenn ihnen die Erschöpfung die Beine schwach werden ließ, als auch diejenigen im Inneren des Gefängnis empfunden haben müssen, die einerseits von Hoffnung genährt, andererseits bereits wussten, dass der Weg hinaus eine Illusion war, die verhört und gequält wurden und ohne geringstes Vergehen zu zehn Jahren verurteilt wurden. Selbst in den mit Stroh beworfenen Böden der Gefängniszellen und Baracken in der Peter-und-Pauls-Festung, in denen Dostojewski oder Bakunin einsaßen, überlief mich nicht derselbe Schauer wie beim Anblick dieser roten Backsteine samt der in ihnen eingebrannt grausamen Geschichte.

(Die Kirche, um die das Gefängnis in rotem Backstein gebaut wurde.

Im Moment sitzen dort nur noch Verbrecher in U-Haft.)

 

(Eine der zwei Sphinxen, mit dem zweigeteilten Gesicht von vorne.)

 

(Die Sphinx von der Skelettseite. Die mittige untere Tafel ist von Solschenizyn beschrieben, wo er sein Bedauern für die damaligen Umstände in Worte fasst.)

 

 

(Anna Achmatowa in ihrer gewohnten Pose als Denkmal gegenüber dem Kresty-Gefängnis)

 

„In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise »erkannte« mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich nie gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton):
»Und Sie können dies beschreiben?«
Und ich sagte:
»Ja.«
Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.

(Anna Achmatowa - Vorwort aus "Requiem" (Gedichte))



 
 

An ganz anderer Stelle ging es mir mit den Emotionen wohl ähnlich. Ich empfand Kälte, obwohl die Temperaturen für eine auf Sumpf gebaute Stadt wie St. Peterburg relativ mild waren. Dort traf ich auf einen unscheinbaren Balkon, auf den einst Lenin gestanden und zum Volk gesprochen hat. Alles wirkt brüchig und grau, kalt und irgendwie auch streng kommunistisch.

 (Haus mit dem berüchtigten Balkon. Unterhalb ist eine Tafel angebracht, die darauf hinweist.)

 

 

 

2.

 

Was mir gleichfalls sofort auffällt, wenn ich durch die Straßen St. Petersburgs schlendere, ist ihre Energie, die sich auf mich überträgt. Ich weiß nicht, womit ich diese erklären könnte, mein Geist aber ist neu belebt und klar, wie wenig Schlaf ich auch bekomme. Schon die alten Räume, die ich sofort wiedererkannte, die Möbel, die nun größer und brüchiger sind, der knarrende Fußboden, die leicht geöffneten Türen der Schränke, der Balkon voller Gerümpel, auf dem früher Kesha, die Katze, hauste, die mein Onkel immer durch den Flur jagte, um ihr beizubringen, nicht auf den Teppich zu pinkeln, die Gitarren an der Wand, die er als Jugendlicher oder später im Suff so gerne spielte, um danach mit Wyssozki die Welt anzubrüllen. Oder das hintere Zimmer, wo wir als Besucher nun auch zu dritt übernachten, wo ich deutlich die Konturen meines Großvaters entstehen sehe, wie er sich über Saschka beugt und mit ihm die Hausaufgaben durchgeht. In seinem Abschiedsbrief an meine Großmutter schrieb er vor allen Dingen von ihm, dessen Weg sich in nihilistische Ebenen verirrt hat, von seiner Liebe für ihn und der Hoffnung, die er hegt, dass Saschka sein Leben in den Griff bekommt. All das ist immer noch vorhanden, entsteht und fällt wieder in sich zusammen, wenn ich mich umblicke und wiedererkenne, obwohl bereits etliche Jahre dazwischen geflossen sind. Sobald ich die Wohnung meiner Großmutter durchwandere, sehe ich mich in Zeiten zurückversetzt, in denen ich als Kind hier spielte, der Kassette lauschte, die mein Großvater von mir aufnahm, auf der ich mit leicht schiefen Tönen ein Kinderlied auf Russisch sang. Ich erblicke den Sessel, seinen Sessel, in dem er gestorben ist, in dem er mir vom Leben erzählte. Ich sehe ihn hinter Gardinen verborgen wachsam auf den Spielplatz vor dem Haus blicken, auf dem ich mich herumtrieb, einen Platz, den er erst verließ, wenn ich wohlbehalten und erschöpft zurückkehrte.

Ob diese Energie, die mich in dieser Stadt überfällt und die nicht mehr aus dem Körper weicht, so dass ich ewig laufen, ewig blicken, ewig der Stadt huldigen könnte, dass eine Gedanke den nächsten verdrängt oder bereichert, ob all das nun aus den alten und sumpfigen Steinen emporsteigt, weil ich hier geboren bin, kann ich nicht sagen. Der Verdacht bleibt allerdings, lässt mich nicht mehr los. Ich fühle mich, als würde ich hier anders atmen, alle Straßen kennen, das Bild dieser Stadt schon immer in mir getragen haben. Und ich weiß, dass jedes kommende Buch, das von dieser Stadt berichten wird, mir ihre Tore erneut öffnen wird, dass ich sie nun wieder klar sehen werde, sobald jemand eine Straße, ein Haus, ein Denkmal oder einen Palast erwähnt.

 

Der Trend der Stadt scheint wohl im Moment das Limousinenfahren für Brautpaare zu sein. Etliche dieser Fahrzeuge entdeckt man inmitten des chaotischen Verkehrs. Überhaupt habe ich so viele Brautpaare gesehen, da sie natürlich all die Orte aufsuchen, die prächtig und bekannt sind. Gleichzeitig waren die Schauplätze so unterschiedlich, dass man sowohl im Katharinenpalast in Puschkin auf die Verliebten traf als auch Verrückte vorfand, die sich am eher hässlichen Gemäuer der Peter und Paul-Festung fotografieren ließen. Jeder eben ganz nach seinem Geschmack.

(Eine dieser ewig langen Limousinen, geblickt aus dem Eingang der Isaakkathedrale.)

 

Aus der Budapeschskaja, wo meine Großmutter lebt und wohnt, schlendere ich über die Straße zur nächsten Bushaltestelle. Die Stadt ist aufgrund ihrer Ausmaße tatsächlich kaum zu begehen, sondern eher von einem Schau-Ort zum anderen, von einer Pracht zur nächsten, ja, fast schon von einer Straßenseite zur anderen zu befahren. Dazu dienen Taxen, Busse, Trolleybusse und natürlich die Metro.

 

Die Busse sind zahlreich und manchmal reine Kleinbusse, in denen nicht mehr als sechs, sieben Leute sitzen. Die Busfahrer, wie überhaupt alle Fahrenden, sind beeindruckend in der Kunst des Fahrens geübt, dass die sechsspurige Straße rasant befahren wird, man so zügig wie möglich vorankommt, bis sich der Verkehr wieder staut. Hier muss die jeweilige Haltestelle auch gar nicht erst erreicht werden, sondern sobald sich der Verkehr staut, werden die Bustüren geöffnet und die Menschen springen heraus, um den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen, entweder, um ihr Ziel so zu erreichen, oder an einer nächsten Haltestelle wieder einen neuen Bus zu besteigen. Das hat mir sehr gefallen. Keine festgelegten Regeln. All das ist so spontan und verhindert das nervige Warten. Man kommt irgendwie immer voran.

 

Riesige Reklametafeln verkünden Werbung für Ketchup in übermächtiger Plastikflasche und Mc Donalds, was mich, lese ich die russischen Buchstaben, irgendwie amüsiert.
Überschreitet man einen Fußgängerweg, so zeigt die Ampel die Zeit an, die gewartet werden muss (rote Ziffern) als auch die, die man nun hat, um die großen Straßen zu überqueren (grüne Ziffern). Einerseits ist das natürlich ein hilfreiches Mittel, andererseits wirkt das wie ein bewusst wahrgenommenes Ablaufen der Zeit… Tick Tack Tick Tack, als ob da jemand mit der Stoppuhr neben einem steht und zur Eile drängt, dass man im Takt der sich verringernden Zahlen gehetzt über den Zebrastreifen flüchtet. Bei dem Verkehr, der wie ein Raubtier in den eigenen Abgasen wartet, während eine rote Ampel eher einer gut gemeinten Richtlinie entspricht, als der expliziten Aufforderung zum Stehenbleiben (kennt man ja auch aus anderen Ländern), ist die Methode vielleicht doch notwendig, wenn sie dem gelassenen Menschen auch einiges seiner Gelassenheit nimmt.

Vom Flughafen ging es mit einem Taxi zu der angegebenen Adresse. Bei den Taxifahrten werden die Preise vorher festgelegt. Natürlich sind die Stände am Flughafen stark überteuert. Dafür aber kommt man bequem voran, gerade wenn der Koffer fast schwerer wiegt als man selbst. Leicht kaputt, da der Flug bereits um sechs Uhr morgens ging, ich sowieso kaum geschlafen hatte (die Zeit wird dann in Russland zwei Stunden vorgestellt), blickte ich aus dem Fenster, ließ die leicht grau bewölkte Stadt als ersten Eindruck auf mich wirken.


Im Flugzeug (wie auch in Bussen und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln) staunte ich mal wieder über das Massenvertrauen der Leute, dass schon nichts geschehen wird, dass auch mich erfüllte. Wir werden fliegen, wir werden durch die Wolken steigen, auf die Stadt blicken und schließlich dann irgendwann, so weit entfernt von Deutschland, wieder sicher landen. Eine Bedingung, die man voraussetzt, während die Stewardess die Sicherheitsmaßnahmen erklärt.
Aus blauem Himmel tauchte man durch eine Wolke ins Nichts, der Kapitän erklärte, dass aus zwanzig Grad auf einmal 12 geworden sind, wir landeten in St. Petersburg, mussten zuvor noch jenes Dokument ausfüllen, dass man nicht verlieren durfte, damit man bei der Rückreise überhaupt wieder aus dem Land gelassen wurde, und setzten sicher auf. Die Phasen des Aufsteigens und des Landens sind die schönsten.
Die mafiösen Bedingungen, dass jeder, egal ob er privat wohnt oder irgendwo sonst bei Verwandten unterkommt, trotzdem für die Zeit seines Aufenthalts ein Hotelzimmer bezahlen muss, auch wenn er dieses nicht nutzt, sind zum Glück wieder abgeschafft, dafür hat man nun drei Tage Zeit, um sich, gegen eine gewisse Summe, registrieren zu lassen. Man geht zu einer Poststelle, besorgt sich die Dokumente, muss dann zur Bank, um das Geld zu bezahlen, dann zurück zur Post, um sich den Stempel zu holen. Kein Wunder also, dass man drei Tage Zeit hat, die man sich dann auch wirklich nehmen muss, nicht einfach so verstreichen lassen kann. (Die kleine Geschi
chte dazu später.)


 

3.

 


Immernoch im Taxi, vom Flughafen zur Wohnung meiner Großmutter, empfand ich tiefe Sympathie für den Taxifahrer, da aus seinem Radio wunderbarer Jazz melodisierte. Man lehnte sich zurück, das Auto war neu, nicht so klapprig wie später die unzähligen Busse, und blickte auf die vorüberziehenden Häuser.

 

Der Taxifahrer wird nicht der Einzige bleiben, der mit Jazz eine eigenartig musische Stimmung erschafft, so dass man sich dann doch auf dem Weg nach Puschkin mal eben erkundigt, ob derlei Musik vielleicht von der Zentrale vorgegeben war. Die Antwort lautete, dass alle anderen Sender ihm auf den Keks gingen.
So also traf man bei mehreren Fahrten auf Jazz-Liebhaber, die man sich direkt in die kleinen Cafés dachte, wie sie um den Samowar sitzen und auf verrauchte Bühnen blicken. Tatsächlich kann man in St. Petersburg mit einem Schiff über die Newa fahren, das gleichzeitig Bar ist und live Jazz-Musik spielt.
Gleich nach der an den Taxifahrer gerichteten Frage ging mir natürlich durch den Kopf, dass „Service“ hier doch eher ein Fremdwort war, dass eigentlich jeder machte, was er wollte, so gut und schlecht, wie es ihm möglich war.

 

Fahren allein wäre für mich hier schon eine Herausforderung, und ich bin froh, dass all die Taxifahrer ihre Aufgabe so hervorragend meisterten, dazu noch derartige Töne aus dem Radio plätscherten, die einen mit sich trugen und innerlich erfüllten.
Es gab dann später natürlich auch noch ganz andere Typen, solche, die nur quasselten, von Rasputin faselten, von dem Betrug Nostradamus, der nichts vorhersehen konnte, weil, so ein anderer Taxifahrer, Gott diese Seherfähigkeiten direkt vermitteln würde und die Gabe nicht einem Einzigen gab, der sie auch noch auf eine unsichere Zukunft anwandte. So müsse Gott auch ihm derlei Fähigkeiten eingeben, worauf er sowieso warten würde. Bis dahin fuhr er eben Taxi.

 

Nostradamus aber sei eine Lüge. Ich sagte ihm, dass Nostradamus’ Sohn sich umbrachte, weil er nicht die gleichen seherischen Kräfte in sich spürte, wie sie sein Vater hatte, weil er, im Gegensatz zu seinem Vater, einige Ereignisse falsch voraussagte. Er winkte ab und kam auf Rasputin zurück, der mittellos  gestorben sei. Ich erwiderte, dass Rasputin ermordet wurde. Er winkte ab und erklärte, dass er hungrig und arm verreckt wäre, dass Gift und Folter ihm nichts anhaben konnten. Ich sagte, es gäbe sogar „Erinnerungen“ eines der Mörder, vom Fürsten Jussupoff, und dass es sogar Bilder seines Leichnams gab. Er sprach von Lügen. Auch erzählte er, als er hörte, dass Deutsche in seinem Wagen saßen, dass die Deutschen wenigstens die Hitlerzeiten bereuten, während die Russen die Schandtaten Stalins bis heute nicht bedauerten.
Dieses Pauschalisieren ging mir leicht auf den Wecker, überhaupt sein lautes Geschwätz und der musikalische Krach, der aus seinen Boxen schepperte, der all das untermalte und irgendwie seinem Charakter entsprach, was meine Ansicht über Taxifahrer in ihrer lässigen Jazz-Haltung dann auch schlagartig widerlegte. 

 

Wenigstens zeigte er mir, wo Rasputin wohnte, ein Haus mit rundem Vorbau, bestehend aus drei Etagen, wobei Rasputin in der dritten gelebt haben sollte, schmiss seine Fahrgäste dann aus dem Taxi, da es zum wiederholten Mal einen Stau gab, erklärte ungefähr, wohin wir gehen müssten und haute uns dann noch um 500 Rubel übers Ohr.

Was ihnen allen natürlich fast schon im Blut liegt, ist die Kenntnis der Straße. Sie wissen haargenau, wann ein nächstes Schlagloch, eine überhohe Schiene kommt, vor der man stark abbremsen muss. Die Straßen sind übersät mit Löchern und Stolperfallen. So sei ihm gegeben, dachte ich nur in diesem Augenblick, was die Kunst des Fahrens verlangt.

Die Häuser der Außenbezirke sind stark zerfallen. Die Russen nutzen die Balkone als Lagerplatz, da die meisten dieser alten Bauten keine Keller enthalten. Ähnlich ist es mit Fahrstühlen, die zwar vorhanden sind, aber grundsätzlich, egal, wohin man auch kommt, nicht funktionieren. Man fragt sich aber in erster Linie, wie diese brüchigen Gestelle, die sich da Balkon nennen, überhaupt so viel Gestautes aufnehmen oder betreten werden können, denn sie wirken, als ob ein Schritt genügt, um all das zusammenstürzen zu lassen. Die Häuser sehen aus, als würde Krieg herrschen oder man durch ein Besetzungsgebiet reisen. Man spürt regelrecht die Not dieser Leute, die dort leben. Trotzdem sind es riesengroße Häuser, viele Etagen, Fenster über Fenster. Ich erinnere mich an bestimmte Bezirke in der DDR, wo alte Kasernen die Plattenbauten ablösten. Diese wirken gegen solche Häuser fast luxuriös.
Die Behausungen wechseln durch Neubauten, ebenso riesig, ganz anders und überteuert, und auf den Balkonen hinter Glasfront erkennt man das gleiche Gerümpel, chaotisch übereinander gestapelt, so dass ein Haus nach dem anderen wie ein abstraktes Kunstwerk wirkt. Man sieht hier, dass die jahrelang erprobten Gewohnheiten auch in neu bezogener Wohnung nicht abgelegt werden.
Obwohl es warm ist, ist die Stadt Wolken verhangen, trägt einen nebligen Schleier, als würde sie ihre Wolken, ihr Wetter selbst produzieren.


 

4.

 

Aus dem Bus springe ich hinaus, er ist eine Weile mit offenen Türen gefahren, was einen guten Fahrtwind ins stickige Innere einlässt. Die Hand des Fahrers ruht auf einem Teppich, auf diesem liegt das in Scheinen bezahlte Geld, auf dem Boden aber klimpern die Kopeken und Einrubelstücke. Sie liegen überall. Die Russen werfen sie weg, weil sie fast wertlos sind.
Die nächste Haltestelle ist die Moskowskaja. Dort steigt man in die Metro. Zuvor trifft man noch auf das letzte und riesige Lenindenkmal vor dem Haus des Sowjets. Dort üben sich die Jugendlichen auf dem riesigen Platz unter jener mit Mütze in der Hand dargestellten Gestalt im Skateboard- und Radfahrern und an den Parkeingängen stehen die alten Frauen, die Blumen verkaufen, die sie wenige Meter weiter aus irgendeiner Hecke gerissen haben.

(Leninstatue vor dem Haus des Sowjets. Im Moment arbeiten dort die Sekretäre von Medwedew.)

 

Einige Steinstufen hinab, trifft man auf die Schalterhalle der Metro. Mit einem Märkchen geht man durch eine automatische Schranke, von denen einige anfangen zu kreischen, falls irgendetwas nicht hinhaut, und fährt dann eine enorm lange Rolltreppe hinab, die wirkt, als wäre sie Kilometer lang.

 

Man steht und steht und rollt hinab, ganze Ewigkeiten vergehen. Die Treppe nach unten stehen die Leute rechter Hand und links wird gelaufen. In der Mitte sind Lampen angebracht, dahinter rollen wiederum die Leute hinauf, die von der Bahn kommen. Ist man nach mehreren Minuten unten angelangt, so trifft man auf einen riesigen, in Marmor gekleideten Saal, an dem rechts und links braun gestrichene Eisentüren sind. Wenn diese aufgehen, so findet sich dahinter der Eingang in die Bahn selbst.

 

Dann heißt es auch schon: „Vorsicht. Die Türen schließen.“, die Stimme fordert alle Menschen auf, Behinderte, ältere Menschen und Mütter mit Kindern sitzen zu lassen, und die Bahn fährt schleunigst und mit dröhnendem Geräusch an. Sie bremst auch sehr aprubt, man wird ganz schön hin und her geschüttelt. Sieben Stationen sind es, bis man zum Newski Prospekt gelangt, vorbei auch am Technologischen Institut, wo meine Mutter und mein Vater früher studiert haben. Meine Mutter erzählte mir, dass man im Winter, wenn man morgens aus der Metro stieg, keine Knöpfe mehr am Mantel hatte, so voll waren die Wagons. Jetzt aber ist es verhältnismäßig leer, auch wenn man nicht sitzen kann, sich an den oberen Eisenstangen festhält.

 

 

 

Die Leute wirken auf mich irgendwie sehr erschöpft. Viele schlafen, egal, um welche Uhrzeit man fährt. Ihre Gesichter sind traurig, müde, ganz selten sieht man jemanden lächeln. Auch auf der Straße ändert sich das Bild nicht. Sie hetzen (wenn ein Volk rennen kann, dann diese St. Petersburger) und blicken grimmig vor sich hin.

 

Aber die Frauen sind wunderschön. Auf sehr hohen Absätzen stolzieren sie dahin, eine so schön und langbeinig wie die andere, und laufen gleichzeitig so schnell, wie ich mit meinen Turnschuhen kaum vorankomme. Ich staune über ihre Vielfalt an Außergewöhnlichkeit. Wunderschön zurechtgemacht, geschminkt und dabei doch gleichzeitig auch völlig verschieden.

 

 

 

Aus der Metro gestiegen, steht man erneut die etlichen Minuten auf der Rolltreppe, denn diese ist nicht nur an einer Station so lang, sondern an allen. Die Bahn selbst scheint ein regelrechter Stream zu sein, und an manchen wenigen Haltestellen kann man dann umsteigen, was ich allerdings nur am letzten Tag gemacht habe, als ich ins Dostojewski-Museum wollte und bis zur Wladimirskaja/Dostojewskaja-Haltestelle fuhr, noch kurz vor dem Rückflug, fast auf dem Sprung und mit dem unguten Gefühl, den Flug vielleicht zu verpassen, denn alleine die Fahrtzeit kostete schon einige Stunden.

Doch gerade dieses Haus, wo er gelebt und auch gestorben ist, wo er die „Brüder Karamasow“ geschrieben hat, wollte ich unbedingt noch sehen, bevor ich endgültig wieder fahre, ohne zu wissen, was mich dort erwarten würde, wollte vielleicht etwas von seiner Atmosphäre wiederfinden, sehen, wie er mit seiner Familie in den letzten Tagen seines Lebens in der Kusnetschnyj pereulok gelebt hat.

 

(Das Haus, in dem Dostojewskij zum Schluss lebte und starb. Unten ist der Eingang zum Museum.)

 

 

 

 

 

Die Wohnung liegt in der zweiten Etage (der erste Balkon, bei dem die Tür offen steht) und besteht aus einem langen Gang und vier Zimmern, die im Quadrat angeordnet sind. Hier lässt sich doch erkennen, dass es Dostojewskijs Familie zu dieser Zeit etwas besser ging. Natürlich sind die Räume nicht mehr original erhalten, während der Revolution- und Kriegszeiten haben sich hier Soldaten breitgemacht, und bald war das Innere auch völlig zerstört (wie es bedauerlicherweise so vielen Sehenswürdigkeiten erging). Die Räume sind also wieder neu und nach den bekannten Vorgaben errichtet, sowie durch verschiedene Gaben der Familie ausgestattet. Der Inhalt (Möbel, Manuskripte und anderes) ist also original.
Zunächst betritt man das Zimmer der Kinder, wo Sch
aukelpferd und Puppe auf einer Bank zu sehen sind, wo Anna Grigorjewna auch mit den Kindern geschlafen hat. Die Aufseherin (so möchte man diese bissigen Weibsbilder dann doch gerne nennen, die dort und überall sitzen und die Besucher fixieren) erzählt später, etwas besänftigt, da ich mehrmals meine Karte und die Erlaubnis zum Fotografieren vorzeigen musste und mich darüber nach dem vierten Mal dann doch etwas empört habe, dass die erste Frage, die Dostojewskij stellte, sobald er das Haus betrat, war: „Was machen die Kinder?“

 

Er liebte sie über alles, und in seinen Briefen kann man auch sehen, wie schwer ihn der Tod seines Kindes getroffen und lange belastet hat.

 

Weiter geht es in das Zimmer seiner Frau, in dem ein Sekretär steht, auf dem sie die Rechnungen verfasste und die Manuskripte ins Saubere schrieb. Sie verlegten und verkauften Dostojewskijs Werke selbst und konnten später dadurch endlich die Schulden begleichen, die durch Spielsucht, Kredite und anderes entstanden sind und aufgrund derer sie auch nach Deutschland flüchten mussten, wo es dann durch Dostojewskijs zahlreiche Geldverluste nicht wesentlich besser wurde. Auf dem Sekretär liegt ein Fragment aus den „Brüdern Karamasow“, geschrieben in ihrer Handschrift.

Dann wendet man sich nach links und betritt das Wohnzimmer, wo man auf Fotografien an der Wand und einen Tisch trifft, auf dem sein Tabak und seine leeren Zigarettenhüllen liegen. Auf der Tabakdose hat seine Tochter am Tag seines Todes mit Bleistift notiert: 28. Januar 1881. Papa ist heute gestorben. Während Dostojewskij gearbeitet hat, rauchte er fast 50 Zigaretten, obwohl er bereits lungenkrank war. Er ließ in diesen Dingen nicht mit sich reden.

 (Die Tabakdose mit der Schrift der Tochter.)

(Das Wohnzimmer mit dem Tisch, auf dem der Tabak und die Zigarettenhülsen liegen.)

 

Noch im Wohnzimmer stehend kann man einen Blick in sein Arbeitszimmer werfen, wo er geschrieben und auch geschlafen hat. Der Schreibtisch, die Couch und eine Ikone am Fenster lassen ahnen, wie er sich über seine Manuskripte beugte. Eine Uhr zeigt den Augenblick an, in dem er gestorben ist. Mittwoch, der 28. Januar um 20.36 Uhr. Die Zeiger wurden durch Markevich mit der Hand gestoppt. Das Arbeitszimmer darf man leider nicht betreten, es ist durch ein Seil abgesperrt. 

(Sein Schreib- und Arbeitstisch, auf dem einige Manuskripte liegen. Auf dem oberen Bild ist er selbst zu sehen. Im Schrank sind einige Bücher.)

 

Über seiner Schlafcouch erkennt man das Bild der Raphael’schen Madonna, das Dostojewskij beeindruckte und von dem er bedauerte, es nicht als Replikat in gleicher Größe erwerben zu können. Er erhielt die Madonna dann als Geschenk von Sofia A. Tolstoja und stand häufig vor dem Bild, um es zu bewundern. Diese Angaben findet man in den Memoiren seiner Frau Anna Grigorjewna.

(Seine Schlafcouch, auf die er sich dann in den Morgenstunden hinlegte, um niemanden zu stören.)

(Die Uhr, auf der der Zeitpunkt seines Todes vermerkt wurde. Oberhalb des Fensters befindet sich eine Ikone.)

 

Durch das Wohnzimmer kehrt man wieder in den Flur zurück, wo sein Hut unter einer Glasglocke zu sehen ist.

(Dostojewskijs Hut und der Flur, über den man wieder zum Ausgang gelangt. Aus dem Wohnzimmer heraus kommt man von links, während ganz rechts, am Hut vorbei, der Ausgang liegt.)

 

Neben der Wohnung gibt es dann noch eine Art Ahnengalerie und Lebenslauf, gestaltet hinter Glas in ganz dunklem Raum, wo man seine Originalmanuskripte (Dostojewskij hat eine schön geschwungene, saubere Handschrift und auch häufig Zeichnungen am Rand gemacht), seinen Werdegang, Bilder seines Aufenthalts in Baden Baden, Erstdrucke seiner Romane, das Bild des liegenden Christus von Holbein, dem Jüngeren, das ihn so sehr bewegt hat und das in „Der Idiot“ von ihm beschrieben wird, sowie seine Totenmaske bewundern kann. 

(Der Christus aus „Der Idiot“ von Hans Holbein, dem Jüngeren)

(Dostojewskijs Totenmaske)

 

 

Es gibt von Dostojewskij auch ein Holzhaus in Staraja Russa, wo er von 1875 bis 1878 und 1880 gelebt hat, das heute ebenfalls ein Museum ist. Sein Grab habe ich nicht besucht, da das Betreten des Friedhofs Geld kostete und der Preis mir zu hoch erschien, um einen Ort zu besuchen, der nach ihm errichtet wurde und eigentlich nichts mehr mit ihm zu tun hat, bin aber am Friedhof vorbeigelaufen und habe mir die dortige Kirche angesehen, in die man nicht ohne Kopftuch eintreten darf. Jemand lieh mir ein Tuch, so konnte ich die innere Pracht trotzdem bewundern.

In solchen Kirchen und Kathedralen uft man immer mit dem Blick nach oben. Die hohen und prachtvoll gestalteten Decken verführen zu Reisen in die Vergangenheit, Träumereien und zur Nackenstarre, die man dafür jedoch gerne in Kauf nimmt.

 

 

 

(Blick von der Isaakkathedrale auf die Eremitage)

 

 

 

 

 

 

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