B L O G

oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Dostojewskis Frühwerk - Teil 3

Samstag, 6. Januar 2018 - in Literatur

3. Dostojewski

„Arme Leute“

 

Von den drei früheren Werken („Arme Leute“, „Onkelchens Traum“ und „Das Gut Stepantschikowo“) ist dieses erste geschriebene sicherlich das spannendste und verrückteste, ohne den Vergleich zu den „reifen Werken“ zu ziehen. Es wurde zur damaligen Zeit hoch gelobt und von Kritikern und Literaten gefeiert. Damit wurde Dostojewski fast über Nacht berühmt, wobei der Erfolg nicht allzu lange anhielt. Schon das zweite Buch wurde zerrissen, während es zu einem meiner liebsten Werke gehört. "Der Doppelgänger" war seiner Zeit weit voraus. Das betrifft die delierende Welt des Protagonisten ebenso wie den spannend offenen Stil.

 

Bei "Arme Leute" handelt sich um einen Briefroman, der schon mehr der damaligen Zeit entsprach und der zwei Figuren sichtbar macht, die einander ihr Leben berichten und dabei in bitterer Armut leben, sich trotzdem über Sein, Literatur und Umwelt austauschen, traurige und schöne Erlebnisse teilen, und das so gut, dass der Roman sich kaum von der erzählerischen Ebene unterscheidet und jeder für sich in seinem Charakter lebendig wird.

 

Die Darstellung der Armut in ihren vielen Facetten wird gekreuzt mit einem absichtlich verwendeten „schlechten Stil“, der dennoch überzeugen kann. Das Buch ist schon darum etwas besser, weil es kein Happy-End hat und weil es im Nachhinein tiefer hinterfragt, wieso manche Menschen so leiden müssen, andere in ihrem Reichtum satter und satter werden.

Selbst unter den Armen gibt es unangenehme Geschöpfe, eine Mutter, die ihren hungernden Sohn mit nackten Füßen in die Kälte zum Betteln schickt. Da bleibt die Frage, was das aus ihm macht in der Konfrontation mit Beschimpfung und Ablehnung. Dostojewski, der die These in vielen seiner Romanen vertreten hat, dass nicht der Verbrecher alleine schuld an seinem Dilemma ist, sondern die Gesellschaft, deutet in diesem Frühwerk nur an.

 

Gezeigt werden Menschen, die unabsichtlich in Armut geraten oder solche wie Warwara, die als Waise unter schlechten Verhältnissen aufwächst, aus denen die Flucht zwar gelingt, jedoch neues Leid nach sich zieht. Ähnlich auch der zu Unrecht verurteilte Familienvater mit seiner hungernden Familie, der einen Rechtstreit abwarten muss, um an das Geld zu gelangen, das ihm zusteht.

In diesem Zeitraum ist es ihm nicht möglich, zu arbeiten, da er der Unzuverlässigkeit und des Betrugs bezichtigt wird, was ihn den Ruf kostet, während ihm während der Warterei auf ein Ende des Prozesses der Sohn wegstirbt.

Die Ironie des Schicksals bringt es dann mit sich, dass sich alles zum Guten wendet, er rehabilitiert wird, das Geld zurückerhält und im Moment der Freude ganz schlicht und einfach stirbt. Statt Friede, Freude, Eierkuchen schlägt hier das Leben erneut erbarmungslos zu.

 

Sichtbar wird in vielen Szenen und Facetten des Romans, dass der Arme eher bereit ist zu helfen, als der Reiche. Der Arme wendet sich dementsprechend an den Leidensbruder, obwohl er damit rechnen muss, dass dieser auch nichts hat. Jedoch kann er eher erwarten, dass ihm wenigstens mit dem Bisschen geholfen wird, das vorhanden ist, wobei der Spender dann selbst in Schwierigkeiten geraten kann.

Diesen Eindruck vermittelten letztendlich viele Schriftsteller, dass ein Mensch, der das Leiden kennt, eher bereit ist, einen anderen Leidenden zu unterstützen, weil er die Umstände kennt, als einer, der einfach nur auf den Armen herabschaut und dessen Welt nicht kennt und auch ablehnt. Der Reiche fühlt sich durch den Anblick des Hungernden vielmehr in seiner Ruhe gestört. Das lässt ihn gegen den Störenfried umso herzloser handeln.

Warwara und Makar retten sich durch ihren Briefwechsel und ermöglichen einander eine kleine Abwechslung vom entbehrungsreichen Leben. Sie helfen einander, auch wenn diese Hilfe klein ausfallen mag.

 

Der Stil ist gewöhnungsbedürftig. Dostojewski überschlägt sich hier in seinen Verniedlichungen, und in den Briefen von Makar Djewuschkin kommt in jedem zweiten Satz ein Engelchen, Mütterchen, Täubchen, Sternchen und ähnliches vor, dass es zum Verzweifeln ist. Das ist von Dostojewski jedoch absichtlich so gewählt, um seine Figur charakteristisch ins Bild zu setzen, wobei auch der Briefeschreiber von sich selbst sagt, er hätte keinen Stil, könne nicht schreiben, was er mehr als schmerzhaft unter Beweis stellt.

 

Auffallend ist auch, dass Dostojewski vieles nicht ausführt, nur Andeutungen macht. So erfährt man z. B. kaum, was Warwara tatsächlich zugestoßen ist und muss es sich selbst zusammenreimen. Wohl wurde sie von der angeblichen Wohltäterin an Männer weitergereicht, darunter auch an den später auftretenden Bykoff, der erneut auftaucht, um sie zu heiraten, angeblich, um das Vorangegangene wieder gut zu machen.

Der schlechte Charakter des Bräutigams ist sehr vage angedeutet, wird nur durch das Erzählte sichtbar. Andererseits ist gerade das etwas, das Dostojewskis Werke ausmacht, das „offene Kunstwerk“ (besonders schön in „Der Doppelgänger“), als eine Möglichkeit für den Leser, seine eigenen Schlüsse zu ziehen, was schon in diesem Werk in kleinem Spielraum möglich ist.

 

Dostojewski schrieb an den eigenen Bruder:

„Man ist gewohnt, in allem die Fratze des Autors zu sehen; ich aber habe die meine nicht vorgezeigt.“

Genau das wird in diesem Erstlingswerk sehr stark sichtbar. Makar spricht als Charakter für sich selbst, stammelt, lallt, verherrlicht, jammert usw., wie es seinem Charakter entspricht. Alle anderen Figuren ebenso.

 

In den späten Werken Dostojewskis wird gerade dieser Zug wunderbar verfeinert. Während z. B. Tolstoi immer seine eigenen Reflexionen in seinen Figuren spiegelt, schafft Dostojewski Figuren eigener Art, die ihm womöglich auf der Straße, im Leben, in der Irrenanstalt oder im Traum begegnet sind. Nichts von Dostojewskis eigenem Wesen ist in den Figuren vertieft. Sie sollen für sich selbst Schablonen eines bestimmten Charakters sein.

 

Damit rief Dostojewski zu seiner Zeit einen ganz neuen Stil ins Leben und war einer der Vorreiter für den modernen Roman. Es gibt tatsächlich Abschnitte, die absichtlich schlecht geschrieben sind, um den Charakter in seinem ganzen Wesen zu zeigen. Der offene Dialog wird bei Dostojewski später eines der genialsten Mittel, um Charaktere von all ihren Seiten zu zeigen, auch darauf zu verweisen, dass keiner nur schlecht oder nur gut ist, dass der Mensch vielschichtig ist.

 

So wie Makar als einfacher Beamter und Schreiber nicht auf sich achtet, niedrig von sich selbst denkt, wenig weiß und auch zur Trunksucht neigt, gibt er, wenn es sein muss, sein letztes Hemd, ist fähig zu lieben und dem Menschen zu helfen, wo er kann. Ebenso Warwara in umgekehrter Form, die charakterstark und freundlich erscheint, am Ende jedoch schwach wird und einen reichen ungehobelten Menschen heiratet, der schon bewiesen hat, dass er sie unglücklich machen wird.

Im Grunde verkauft sie sich ein weiteres Mal, um ihrem Elend zu entkommen und kann so ihrer Vergangenheit nicht entkommen, während sie sich selbst dazu entschließt. Dazu belastet sie den Freund und Briefpartner, von dem sie weiß, dass er sie liebt, mit unsinnigen Aufträgen für die Hochzeitsvorbereitungen, so dass all ihre vorangegangenen Bemühungen um ihn hinfällig werden und sie die Freundschaft in eine oberflächliche Spiegelung verwandelt. Der leicht infantile Beamte Makar Djewuschkin wird traurig zurückgelassen. Sein Ruf im letzten Brief erfolgt ins Nichts.

 

 

(Meine Rezension basiert auf der Gesamtausgabe von Zweitausendeins, Band "Der Doppelgänger", Übersetzung: E. K. Rahsin)