Valerij Tarsis



„Botschaft aus dem Irrenhaus“



 

 

Als Tarsis oben genanntes Manuskript aus der Sowjetunion schmuggeln ließ, lehnte er ab, dass dieses im Westen unter einem Pseudonym erscheinen solle.

„Einer muss der Welt verkünden, dass hier auf Erden noch ein russisches Volk lebt und nicht nur ein sowjetisches. Einer muss beweisen, dass es auch ehrliche Dichter gibt, deren Aufgabe es ist, für die Freiheit zu kämpfen, den Seelenmördern die Maske vom Gesicht zu reißen und die Sturmglocke zu läuten…“


… erklärte er.



Damit war Tarsis einer der ersten Schriftsteller, die erneut Einblick hinter die Grenzen der Sowjetunion ermöglichte, ins Licht rückte, dass die Verbannungen und Verhaftungen nun in Krankenhäusern und Irrenanstalten fortgeführt wurden. Chruschtschow kämpfte gegen die Schriftsteller, die im Tauwetter nach Freiheit schrien. Er ordnete mehr Heimlichkeit an und sorgte dafür, dass die Freiheitschreier nicht hinter Gittern, sondern in Gummizellen landeten.

Valerij Tarsis wurde 1906 in Kiew geboren. Er studierte Geschichte und Philologie an der Universität Rostow am Don und arbeitete nach dem Examen bei der Zeitschrift „Künstlerische Literatur“.
Sein erstes Werk zeigte ihn als guten Kenner zeitgenössischer europäischer Literatur und hieß „Ausländische Literatur der Gegenwart“. Auch machte er sich als Übersetzer einen Namen.
1939 begann Tarsis sich mit dem Sozialismus genauer auseinanderzusetzen. Als Kriegsberichterstatter zog er in den Zweiten Weltkrieg und arbeitete danach weiter an seinem Werk über den Sozialismus „Das Schöne und sein Schatten“. Darin offenbarte er die Entartung des Sowjetregimes als eine „grausame und gigantische Bürokratie“. Nach der Stalinära sah Tarsis im Sowjetstaat nicht den Sozialismus verwirklicht, sondern einen mächtigen Polizeistaat. Die Folgen waren abzusehen. Tarsis schmuggelte seine Manuskripte ins Ausland und wurde als Geisteskranker in eine Nervenheilanstalt in Moskau eingewiesen. Auch in „Botschaft aus dem Irrenhaus“ kommt zur Sprache, dass die Ärzte keinerlei Kenntnisse besaßen, lediglich an alle Patienten die gleichen Medikamente austeilten und Schweigen bewahrten, bis der tatsächlich Gesunde geistig vor die Hunde ging. Erst die Entrüstung in der Weltpresse ermöglichte Tarsis, wieder auf freien Fuß zu kommen. 1966 war es ihm dann endlich erlaubt, in den Westen zu emigrieren. Er starb in der Schweiz, am 04. März 1983 an einem Herzinfarkt.

 



Nun zu „Botschaft aus dem Irrenhaus“:



Aus dem „Krankenzimmer Nr. 6“ sind wir ins modern eingerichtete Krankenzimmer Nr. 7 übergewechselt.

 


So lauten die Worte des Chefpsychiaters, unter dessen Leitung samt bullenbeißerischem Pfleger- und Ärzteteam, nur wenige Kranke, dennoch etliche Verrückte ihre Zeit verbringen. Die Verrückten sind in drei Kategorien zu teilen. Einmal die Selbstmörder, dann die „Amerikaner“ (das sind solche Menschen, die versucht haben, eine ausländische Botschaft aufzusuchen) und schließlich die Verweigerer (die z. B. das Studium oder Militär verweigert haben). Tarsis' Blick auf die Innenräume dieser Welt ist nicht grausam oder verbittert. Er belächelt all das vielmehr und schimpft auf die sowjetische Außenwelt, in der all das erst möglich ist. Sein Schimpfen ist auch nicht das eines gereiften und gesetzten Menschen, der traurig auf die Zeit und Entwicklung blickt, sondern laut, ungestüm und jugendlich idealistisch. Nicht durch die Blume, verschleiert, hinter Ironie verborgen spricht er die Dinge aus und an, sondern unverblümt und wie sie sind. Manch einer mag sich im Sinne der Kunst dann etwas anderes wünschen, gerade aus heutiger Sicht, wo so vieles längst bekannt ist, dennoch sind seine Worte wichtig und konnten die Umstände verbessern.

Einer der Insassen ist auch Valentin Almasow, der, obwohl schon die Haarfarbe „wie Salz und Pfeffer“ in seiner Seele jung geblieben ist, was ihm auch zum Verhängnis wird. Er kann die Zeiten immer noch nicht annehmen und besitzt den stürmischen Widerspruchsgeist seiner Jugend.

 



  • „… je älter er wurde, desto ungesicherter erschien ihm der Wert seiner Erfahrungen und Erkenntnisse. Alles, was er in seiner Jugend oder als gereifter Mann erlebt und in sich aufgenommen hatte, erschien ihm unsicher, vergänglich, unglaubwürdig.“

 



Almasow ist natürlich Tarsis oder eine an ihn angelehnte Figur. Durch sie spricht er seine Gedanken aus, doch sein Schimpfen dehnt sich auch auf seine anderen Figuren aus, die alle ihre eigenen Erlebnisse haben und in gleicher Art und Weise unschuldig als „geistig verwirrt“ gelten. Sie werden von inkompetenten Ärzten betreut, die nur um ihre Stellung fürchten und keinerlei Fachwissen besitzen. Daher ist der Vergleich zu Tschechow nicht weit hergeholt. Zwei bilden eine Ausnahme (möglicherweise ein kleines Zugeständnis von Tarsis), dennoch ist die eine zu schwach, sich wehren zu wollen, will lieber „Sklave“ bleiben, wagt aber wenigstens, die Dinge anzusprechen, und der andere zu alt, wenn auch einsichtig, dass irgendetwas verkehrt läuft.
Die Erkenntnis, dass der Kommunismus nur eine Abart des Faschismus ist, kommt früh, auch begreift Almasow schnell, dass die russische Literatur tot ist. (Für ihn waren diese Leute keine Schriftsteller, sondern Parteibarden, die man nur verachten konnte.) Daher versucht er seine kritischen Manuskripte einem ausländischen Journalisten mitzugeben, bis der Herausgeber im Westen ihm vorschlägt, seine Gedanken unter einen Pseudonym zu veröffentlichen. Das lehnt Almasow ab und ihm wird bald schon mit Verhaftung gedroht.

Obwohl er sich von den großen Denkern leiten lässt, darunter Marc Aurel:

 



  • „Wenn du wüsstest, aus welcher Quelle sich die Urteile und Neigungen der Menschen speisen, du würdest aufhören, nach ihrem Beifall zu haschen.“

 


… hat er das Ganze nicht genug verinnerlicht. Er schreibt einen Brief an Chruschtschow und bittet um Ausreise. Bald darauf geschieht das, was kommen musste. Er wird verhaftet und in die Irrenanstalt gebracht.
Dort wird er durch eine Ärztin mit den Worten begrüßt, er könne froh sein, nur ins Irrenhaus zu kommen, andere waren erschossen worden und die Angehörigen damit getröstet, dass der Erschossene von der Partei nie vergessen werden würde.
Als Geisteskranker wird er zwar wie ein Schwerverbrecher behandelt, hat aber innerhalb des ihm zugeordneten Status das Recht, frei von der Leber weg zu reden, immerhin bestärkt das die Meinung über sein Krankheitsbild, dagegen darf er nie die Stimme erheben, in diesem Fall gibt es eine schmerzhafte Spritze.

Die Möglichkeit, sich endlich aussprechen zu können, veranlasst viele, sich, obwohl doch eingesperrt, wieder freier zu fühlen. Sie fühlen Freiheit inmitten der Gefangenschaft und beginnen auch wieder, sich nach ihr zu sehnen, ein Wunsch, der zuvor noch abgestorben schien. Sie sitzen und diskutieren, die angeblich Kranken, die die eigene Unruhe hergetrieben hat, und Tarsis rückt jene Lebensgeschichten, ob nun Selbstmordversuch, „Amerikaner“-Ruf oder Verweigerung, in den Vordergrund, erzählt von Gestalten, die mit dem Sowjetsystem nicht zurechtkommen, sich das Russische wünschen, nicht das Sowjetische. Sie schimpfen und fluchen und suchen nach Auswegen. Überhaupt schimpft Tarsis besonders laut über Chruschtschow und Gesellen, auch über das sowjetische Volk, das sich blind dem Schweigen überlässt und hofft, nur irgendwie nicht in Schwierigkeiten zu kommen.
 

 



  • Freunde, über das Leben in dieser Welt kann man verschieden denken. Die einen preisen die Knechtschaft, die anderen die Freiheit. Die Geschichte der Menschheit ist im Wesentlichen ein Kampf zwischen den Anhängern der eingefleischten Sklavenhalter und jenen Menschen, die die Freiheit lieben.

 

 

Tarsis zu lesen, ist wie die Begegnung mit dem erfrischenden, idealistischen und nur zu häufig flüchtigen Geist der Jugend. Er schöpft seine Figuren aus den eigenen Erlebnissen und der eigenen Unzufriedenheit, in denen die unterschiedlichen Empörungen aufwallen und ihren Ausdruck gewinnen. Der eine fordert Gewalt gegen Gewalt, der andere lehnt diese ab, möchte aber die gleiche Veränderung. Ein anderer zuckt hoffnungslos mit den Schultern oder stampft erwartungsvoll auf. Er holt sich Literaten und Philosophen zur Hilfe, um eine Lösung finden zu können. Dass es so nicht weiter gehen kann, dass die Menschheit aufhören muss, Schaf zu sein, und wieder beginnen muss, Mensch zu werden, ist seine Parole. Der Mensch soll auferstehen gegen das Mensch-Ähnliche, soll das Sein von Schaf und Affe oder Gewaltherrschaft überwinden.
Klar, Tarsis ist ziemlich einfach strukturierte Literatur und auch in erster Linie (für mich) interessant, weil er einer der Schriftsteller ist, deren Werke zuvor im Samisdat verbreitet wurden. Ich mag seine Art zu schreiben. Man muss hier natürlich bedenken, dass Tarsis Schriften in den Sechzigern herauskamen und auch diesen Raum an Ahnung, Interpretation, Entwicklung, Philosophie und Geschichte einnehmen. So wird dieser Schriftsteller dem Kenner russischer Geschichte kaum etwas Neues erzählen. Auch wird er kaum neue philosophische Gedanken äußern, die man nicht schon irgendwo irgendwann einmal gehört hat. Dennoch ist sein Versuch beachtenswert und seine Schriften sind oder waren in erster Linie dazu da, zu zeigen, was in der Sowjetunion schief lief.





 


(Alle Zitate stammen aus: Valerij Tarsis "Botschaft aus dem Irrenhaus" - Possev Verlag, 1965)



 
 
(c) Annelie Jagenholz