Viktor Nekrassow


Ansichten und etwas mehr




In „Ansichten und etwas mehr“ knüpft Nekrassow an „Zu beiden Seiten der Mauer“ an. Dieses Werk erscheint mir wesentlich ausgefeilter, anspruchsvoller, ernster, auch von einem reiferen Menschen geschrieben, der Zeit hatte, alles in Ruhe zu durchdenken. Sein Ton ist gemächlicher, tiefsinniger, zärtlicher in der Betrachtung der Menschen. An anderer Stelle, dort, wo es sinnvoll ist, auch lauter und wütender, wo er zuvor noch etwas herumgedruckst hat und die Dinge nicht richtig beim Namen nannte. Hier nun blickt er auf die Sowjetunion mit klarem Verstand und deutet genauer auf all das, was geschehen ist, erzählt auch ganz genau, wie er überhaupt Kommunist wurde und der Partei beitrat.

Nekrassow beginnt mit seinem wunderschön beschriebenen Aufenthalt in Spanien, durchdenkt die Frage, für wen er schreibt (nicht für den Westen, sondern für die Russen, die wissen sollen, wie er denkt und was er im Westen erlebt, dennoch kommt er immer wieder auf die Sowjetunion und seine eigenen Erlebnisse zurück, was wiederum schön für den Leser ist) und erlebt seinen ersten Stierkampf.



  • „Es ist der Kampf zwischen zwei ungleichen Gegnern. Der Stier ist zwar größer, stärker, gefährlicher, ein einziger Stoß seines Hornes kann tödlich sein, doch er ist – man verzeihe mir diese lakonische Feststellung – ganz einfach dumm. Er geht an seiner eigenen Dummheit zugrunde, nicht so sehr, weil man ihn vorher zuschanden gehetzt hat. (…) Der Matador aber bewegt sich die ganze Zeit über am Rande des Todes.“



Dann macht er sich an das Erzählen, von all dem, was er erlebt hat. Sein Bericht über die Menschen, die in die Lager kamen, von seinem Ausschluss aus der kommunistischen Partei, wie er erfolgte, sein Blick auf verschiedene Schriftsteller und Dichter, die keine Courage hatten, sondern sich entweder drückten oder ihre Kunst dem Staat verschrieben, wodurch sie keine Kunst mehr war, ist ausführlicher, als in seinem vorangegangenen Werk. Der Ausschluss erfolgte aufgrund seines Werkes „Zu beiden Seiten des Ozeans“. Chruschtschow fand daran keinen Gefallen, Nekrassow wurde gerügt. Der Stalinpreisträger muss sich dann noch weitere Rügen gefallen lassen und ist unglaublich dankbar dafür, dass es bei ihm bei der Rüge belassen wurde. Als er seine Abgaben zu spät bezahlt, ist das Urteil endgültig. Verschiedene Redner treten vor und sind sich alle einig, dass er zu gehen hat und auf seinem Werk „In den Schützengräben Stalingrads“ sitzen bleibt. Auch ist Nekrassow sehr selbstkritisch und geht mit sich selbst ins Gericht:



  • „Ich bin reinen Herzens und mit reiner Seele in die Partei eingetreten. Ich habe vertraut, genauer, ihr blind geglaubt. Später versuchte ich, mich selbst irgendwie zu überzeugen. Ich dachte, es gibt wahre und falsche Kommunisten, mich selbst zählte ich zu den wahren. Ich wollte auch die anderen überzeugen. Aber man hat mir die Überzeugung genommen.
    (…) Ich habe all das an mir selbst erfahren, kenne das alles. Die Fäulnis. Den Betrug. Ich darf darüber reden, als der Betrogene, der darunter gelitten hat. Von einem gewissen Augenblick an war ich ein Beteiligter, der nicht immer „dafür“ stimmte aber auch nicht „dagegen“.



Was besonders schön an Nekrassows Eindrucks-Gedanken-Büchern ist, ist diese Mischung aus Rückblick, Überlegung, Ansichten, Erinnerung, Gegenwart, seine Betrachtung der Menschen oder Länder, in denen er sich aufhält, darunter neben Spanien auch Norwegen oder Frankreich, genauer Paris, wo Nekrassow lebt.

  • „Aber jetzt sind wir in Paris. Sie ist wahrhaftig eine Messe wert, diese Hure. Bei Gott, das ist sie. Und sei mir nicht böse, Freund, wegen dieses Bonmots, das sich mir plötzlich aufdrängte, obwohl es schwerlich so von Henri IV. stammen dürfte, aber im Mund eines meiner Freunde (…) klang es so treffend und überhaupt nicht vulgär, dass ich eine Minute lang überlegte, ob ich nicht meine Aufzeichnungen so nennen sollte.“


Der Blick ist also nicht ausschließlich auf die Vergangenheit gerichtet und damit kritisch und zum Teil auch bitter, sondern überblickt ein Gesamtes voller Momente und auch Kleinigkeiten, wenn er u. a. von seiner Freude berichtet, Pakete zu packen und die Gaben des Westens in die Sowjetunion zu verschicken. Mit viel Humor macht er sich über das „fette Frankreich“ und die böse, böse Konsumgesellschaft lustig.
Und dann wiederum erzählt er von den Boulevards, den Flohmärkten und den Bücherläden in Paris. Da sein Französisch schwach ist, beschränkt er sich auf Bild- und Kunstbände, aber, so ruft er aus, was für eine Pracht und Überfülle alleine hier. Paris bei Nacht, bei Tag, das alte Paris, Paris aus der Luft. Andere Städte. Und die Kunst in Bänden so schwer, dass man sie kaum vom Boden aufheben kann. Ja, sagt Nekrassow, das schickt sich nicht, wie ein Tourist aus der Sowjetunion zu kommen und zu kaufen und zu kaufen. Gerade darum tut er es. „Ich selbst falle mir in den Arm: Du darfst nicht! Du darfst nicht!... und bin schon an der Kasse.“



Immer wieder dringt durch Nekrassows Worten und Beschreibungen auch der Wunsch hindurch, den Westen für Russen schmackhaft zu machen. „Kommt her, ich führe euch herum“, sagt er und bringt Beispiele über Beispiele, gegen die Propagandamaschine anzureden. Er erzählt von den Cafés, sitzt dort, wo Sartre und Beauvoir saßen, durchstreift die Stadt, bedauert die Veränderungen:


  • „Man vernichtet, alte Häuser werden abgetragen, es gibt keinen „Bauch von Paris“ mehr – Les Halles -, stattdessen nur noch ein riesiges Loch, und niemand weiß bis zum heutigen Tage, womit es gestopft werden soll…“


Aber sagen will er:


  • „Den Geist der Freiheit. Das ist es, was du in Paris atmest.“



Auch erörtert Nekrassow ausführlich jenes Angebot, das in Paris auch als Zeichen der Freiheit gilt. Sexshops, Pornokinos, das gepredigte Böse. Nekrassow aber weist darauf hin, dass dies natürlich existiert, dass aber hineingehen kann wer will, und wer es nicht will, der geht eben nicht. Das ist der Vorteil der Freiheit. Filme von Pasolini findet er unerträglicher als Pornofilme, dennoch fragt er auch, weshalb man sie, bloß weil sie bestimmte Szenen enthalten, die über die Grenze des Ertragens hinausreichen mögen, verbieten sollte. Für ihn ist ein kapitalistisches Land, das zwar seine Menschen auch ausbeutet, ihnen aber gleichzeitig ermöglicht, ein Auto zu fahren und ein Haus zu bauen immer noch lieber, als ein fingierter Sozialismus. „Ich bin für die Freiheit. Und nichts weiter.“, ruft er aus.

Drei seiner Freunde betrachtet er näher, erzählt von ihrem Leben und ihrem Tod. Alle waren sie Säufer, wie Nekrassow auch von sich sagt, dass er dem Trunk nicht abgeneigt ist. Darüber kommt er auf den Alkoholismus in Russland zu sprechen, der dort besonders stark vertreten ist, der Tradition zu sein scheint, den Kummer ertränkt oder einfach die Seele belebt. Er reflektiert über diese Erscheinung, die er in Frankreich und anderen Ländern nicht vergleichbar findet.

  • „Überhaupt dieses kluge Wort „Alkoholismus“ – für Russland besagt es gar nichts. Dort herrscht einfach eine allgemeine, seuchenartige Sauferei…“


In Russland ist der Handel mit Wodka eine der wichtigsten Haupteinnahmequellen der Regierung, so Nekrassow.

  • „Und außerdem ist die im ganzen Volk verbreitete Sauferei das beste Mittel, die Gehirne zu vernebeln. Ein klares, nüchternes Gehirn ist das, was jene, die aus einem Volk von zweihundertfünfzig Millionen ein Volk von Robotern machen wollen, am meisten fürchten. Und in diesem Fall haben unsere Führer auf einmal beinahe etwas gemein mit ihrem Volk, das sich zwar weigert, zu Robotern zu werden, aber jedem nüchternen Menschen, der nicht trinkt, mit äußerstem Misstrauen begegnet.“


Wie der Roman idyllisch in Spanien beginnt, so endet er in Frankreich und Paris, mit einem liebevollen Blick Nekrassows auf diese Stadt und die Franzosen. Nekrassow besucht auch das Museum Pompidou und wundert sich über die Moderne. Er gesteht ein, dass er mit seinen sechzig Jahren keinen Zugang findet und ein Bewunderer der „Peredwischniki“ bleibt. Ihm fehlt das einfache Leben, das in den Bildern der russischen Realisten noch zu spüren ist.
Die französische Sprache aber liebt er, auch wenn er sie nicht beherrscht. Er schätzt keine Diners, die für ihn nur Zwang und Anstandsform sind, liebt aber die Cafés und die Jugend, die überall ihren Gefühlen Ausdruck verleiht, während er sie still für sich um diese Freiheit beneidet.

Auch eine Reise nach Israel bewegt Nekrassow tief und durch sie reflektiert er über den Antisemitismus in der Sowjetunion, den er nicht im Volk glaubt, sondern besonders stark beim Kleinbürger vertreten findet.



  • „Die wirklichen Antisemiten sind nicht die, die nach einem Gläschen Wodka behaupten: „Um Lewka mach dir keine Sorgen, der ist ja wendig wie ein Jud“, sondern die, die bei jenem berühmten Gläschen erklären: „Ich bin kein Antisemit, ich muss sogar sagen, dass wir in unserem Regiment einen Judenbengel hatten, der sehr tapfer war …“



Was er besonders dort in der Wüste verspürt, ist das Heilige, das Religiöse, die Anwesenheit von IHM, an den er doch nicht glaubt. Er freut sich über die vielen Menschen, die er dort antrifft, und die ihm so ähnlich sind.

In beiden Schriften Nekrassows, sowohl in „Zu beiden Seiten der Mauer“ als auch in der hier vorgestellten, erfährt der Leser ebenfalls eine Menge über die anderen Schriftsteller, die für „Kontinent“ und den Samisdat geschrieben haben, darüber hinaus auch über den Herausgeber, Wladimir Maximow, der all das möglich machte, während Nekrassow sich einige Male fragt, wie dieser das anstellt und woher er die Kraft und Energie nimmt. Auch Maximow wurde aus der Sowjetunion ausgewiesen, lebt nicht weit entfernt von Nekrassow in Paris.

Mit einem Zitat aus seinem Werk endet Nekrassow und zum Schluss auch mit einem Gedicht, dass aus der Feder eines noch sehr jungen Stalins stammt, dem ein georgischer Schriftsteller erklärt hatte, er hätte kein Talent.


  • „Und der junge Mann wählte und ging einen anderen Weg…“




 

(Alle Zitate stammen aus Viktor Nekrassow "Ansichten und etwas mehr", Ullstein Kontinent)

 

 

 


 

(c) Annelie Jagenholz