Adalbert Stifter


Der Nachsommer




… er huldigte keinem Zeitgeschmacke, sondern nur der Wesenheit der Dinge…




Es ist wirklich kein Wunder, dass Nietzsche Gefallen an diesem Buch gefunden hat, ist darin die griechische Kunst und Dichtung hoch gelobt, von einer Perfektion im Geiststreben geredet, von einer Zurückgezogenheit, um sich den eigenen Dingen zu widmen, dass Nietzsche darin womöglich viel seiner selbst erkannt hat.

Adalbert Stifter war Österreicher und wurde am 23. Oktober 1805 in Oberplan an der Moldau geboren. Sein Studium finanzierte er durch die Arbeit als Hauslehrer. Er gab Nachhilfestunden, wie es auch seine Figur, der Freiherr von Risach, getan hat und von sich berichtet, wobei er wohl viele Gedanken von Stifter ausdrückt, was allerdings kaum betont werden muss, da die Figuren an sich eine kleinere Rolle spielen als z. B. die Allmacht der Natur, des Gedankens, des Schauens. Weiss hat es richtig gesagt: die Grenze zwischen dem Menschen in der Landschaft und der Landschaft im Menschen verschwindet bei Stifter.
Durch übermäßigen und frustrierten Alkoholgenuss und einer unglücklichen Liebe brach Stifter das Studium ab. Er bewarb sich um verschiedene Stellen, heiratete ohne all zu großes Gefühl eine Putzmacherin, bis seine Erzählung „Der Condor“ wohlwollend aufgenommen wurde.
Stifter malte auch, was in seinem Werk „Der Nachsommer“ an Kenntnissen stark hervorsticht. Mit „Abdias“ schaffte er 1847 den literarischen Durchbruch. Danach folgten Höhen und Tiefen, hauptsächlich viel Kritik an seinem Werk. Auch seine Ehe schien durch Kinderlosigkeit belastet (im „Nachsommer“ heißt es an einer Stelle aus dem Mund von Risach: (S.651)… man nannte unsere Ehe musterhaft; aber wir lebten bloß ohne Unglück. Wer weiß, wieviel von diesen Worten Stifter selbst betrafen), dass sich das Ehepaar eine Ziehtochter ins Haus holte, die irgendwann ausbüchste und tot in der Donau aufgefunden wurde, was Stifter hart traf. Auch wenn es in der Todesurkunde verschwiegen wurde, so litt Stifter an einer schmerzenden Leberzirrhose und öffnete sich im Krankenhaus die Halsschlagader. Er starb am 28. Januar 1868 in Linz.


In seinem Werk „Der Nachsommer“ spürt man auch als heutiger Leser die ganze Kraft der Natur, die Liebe zum Geist, zum Geistigen, zu den ernsten Gedanken und Bestrebungen. Stifter verweist auf die Kunst und wie sie sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern wird, trifft sie auf eine Kultur, die ihr gerecht oder nicht gerecht wird. Es sind mächtige Gebirge, saftige Wiesen, Reisen in Postkutschen, Zitherklänge und blühende Pflanzen, es ist wirklich am Ende ein Nachsommer, durch den der Leser seine Wanderung vollzieht, in inniger Betrachtung einer gemächlich dahinfließenden Landschaft und Handlung, in der der ideale Mensch, das ideale Bild und Gestein hervorgehoben sind, um aus ihnen stil- und kunstvoll eine Erzählung zu formen, die vorgeführt wird wie die schönste Gipsstatue, unter der sich edler Marmor verbirgt und die darum noch ungeahnt schwer zu tragen ist, wie das, was den Menschen bewegt und wodurch er sich bewegt, um durch die Mühe und Kraft belohnt zu werden, die Ruhe zu finden, sie lange betrachten und bewundern zu dürfen und vielleicht dabei ein stückweit selbst veredelt zu werden.

Geschehen tut nicht viel, eigentlich nichts Überraschendes oder „Erregendes“. Die Handlung ist tatsächlich nur Erzählung, die bis zum Ende „ein zartes Fließen“ bleibt, wie es Hofmannsthal formuliert hat. Dass Stifter von seinen Zeitgenossen kritisiert wurde, lässt sich einerseits nachvollziehen, andererseits und erstaunlicherweise ist genau diese Reaktion als Reaktion auch Inhalt des „Nachsommers“, was die Sache abrundet und Stifter dadurch endgültig zum Künstler macht.

Die Geschichte beginnt (als eine erste und zu ahnende Handlung) mit einer Herausforderung zwischen dem Ich-Erzähler Heinrich und dem Freiherr von Risach, der der Besitzer des Asperhofe ist, den Heinrich still für sich "das Rosenhaus" nennt und von dem er sich bei seiner Wanderung durch die Landschaft angezogen fühlt. Hier versucht er vor dem drohenden Gewitter Unterschlupf zu suchen, während Risach ihm entgegenhält, es würde keinen Regen geben. Um diese Behauptung beider – die des alten und des jungen Menschen – zu überprüfen, fordert Risach Heinrich höflich dazu auf, bei ihm zu übernachten. Damit beginnt eine innige und tiefe Freundschaft, die nicht nur Sympathie, sondern vielmehr Lehre und Erziehung für den jungen Erzähler wird. Seine Reife gestaltet sich durch die weise Führung des Freiherrn und durch ihn selbst, der bereit ist, alles, was man ihn an Gedanken zukommen lässt, aufzunehmen und zu verinnerlichen. Durch Risach lernt er, die Dinge zu schätzen, seien sie groß oder klein, einfach oder erhaben, und wird am Ende mit dem idealen Leben und Verlauf der Dinge belohnt.

Der Erzähler sucht während der Geschichte drei Orte auf, die immer wieder wechseln. Das Elternhaus, das Rosenhaus und durch die Bekanntschaft, die er bei Risach macht, den Sternenhofe, wo er auf ein faszinierendes und ihn einschüchterndes Mädchen trifft. Auch dort geschieht nichts Wesentliches, außer ein nach und nach immer inniger werdender Kontakt zu den dort lebenden Menschen, bis daraus unverhofft eine Liebe erwacht.


Am Ende des Buches fließen alle drei Orte des Geschehens samt ihrer verschiedenen Menschen dann kunstvoll ineinander.

Warum man das Buch nun immer weiter liest, obwohl nichts geschieht, die Handlung sich bis ins kleinste Detail beschrieben vollzieht, man könnte sogar sagen: bis in das Öffnen jeder Schublade, liegt an eben diesem gleichmäßigen Fließen. Man erwartet nach den ersten Seiten nichts, man lässt sich einfach treiben und beobachtet, was geschieht, eben so, wie man ein Landschaftsgemälde betrachtet.

Während Hugo von Hofmannsthal den Abschnitt über das Lob der Dichtkunst erwähnt und als schönste Stelle anführt, die dort als reinste und höchste unter den Künsten beschrieben wird, die beinahe keinen Stoff mehr besitzt, „ihr Stoff ist der Gedanke“, so fand ich die Stelle über den Künstler schön, in der Stifter alias Risach darauf hinweist, dass kein Künstler seine Werke erschafft, indem er über die Wirkung nachdenkt, ohne das Sein als Künstler einzubüßen oder gar nicht erst zu besitzen. Die Stelle ist so schön, dass ich sie hier einfach ausführlich zitiere, gerade weil sie genau das beschreibt, was auch Stifter mit seinen Zeitgenossen durchmachen musste, die seine Werke verkannt haben. Da also heißt es:

 


  • … wenn der Mensch überhaupt seine ihm angeborene Anlage nicht kennt, selbst wenn sie eine sehr bedeutende sein sollte, und wenn er mannigfaltige Handlungen vornehmen muss, ehe seine Umgebung ihn oder er sich selber inne wird, ja wenn er zuletzt sich seiner Freiheit gemäß seiner Anlage hingeben oder sich von ihr abwenden kann: so wird er wohl im Wirken dieser Anlage nicht so zu rechnen imstande sein, dass sie an einem gewissen Punkte anlanden müsse; sondern je größer die Kraft ist, um so mehr glaube ich, wirkt sie nach den ihr eigentümlichen Gesetzen und das dem Menschen inwohnende Große strebt unbewusst der Äußerlichkeiten seinem Ziele zu und erreicht desto Wirkungsvolleres, je tiefer und unbeirrter es strebt. (…) Es hat wohl Menschen gegeben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugnis auf die Mitmenschen wirken soll, die Wirkung ist auch gekommen, sie ist oft eine große gewesen, aber keine künstlerische und keine tiefe; sie haben etwas anderes erreicht, das ein Zufälliges und Äußeres war, das die, welche nach ihnen kamen, nicht titelten und von dem sie nicht begriffen, wie es auf die Vorgänger hatte wirken können. Diese Menschen bauten vergängliche Werke und waren nicht Künstler, während das durch die wirkliche Macht der Kunst Geschaffene, weil es die reine Blüte der Menschheit ist, nach allen Seiten wirkt und entzückt, solange die Menschen nicht ihr Köstlichstes, die Menschheit, weggeworfen haben.

    (…) Es sind die Größten, welche ihrem Volke vorangehen und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken stehen, zu der sie ihre Welt erst durch ihre Werke führen müssen. Nach Jahrzehnten denkt und fühlt man wie jene Künstler, und man begreift nicht, wie sie konnten missverstanden werden. Aber man hat durch diese Künstler erst so denken und fühlen gelernt.

    (…) Wenn nun der früher angegebene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren Künstler gäbe, der zugleich wüsste, dass sein beabsichtigtes Werk nie verstanden werden würde, so würde er es doch machen, und wenn er es unterlässt, so ist er schon gar kein Künstler mehr, sondern ein Mensch, der an Dingen hängt, die außer der Kunst liegen.
    Hierher gehört auch jene rührende Erscheinung, die von manchen Menschen so bitter getadelt wird, dass einer, dem recht leicht gangbare Wege zur Verfügung ständen, sich reichlich und angenehm zu nähren, ja zu Wohlstand zu gelangen, lieber in Armut, Not, Entbehrung, Hunger und Elend lebt und immer Kunstbestrebungen macht, die ihm keinen äußeren Erfolg bringen und oft auch wirklich kein Erzeugnis von nur einigem Kunstwerte sind. Er stirbt dann im Armenhause oder als Bettler oder in einem Hause, wo er aus Gnaden gehalten wurde.

 


So erging es z. B. dem auch häufiger im Buch erwähnten Genie van Ruisdael, dessen Landschaften so lebendig sind, dass man heute staunend und fassungslos davor verharrt.



(Quelle: members.chello.at)


(Quelle: kunst-fuer-alle.de)
 


Was Stifter am Herzen liegt, ist der Verweis, dass jeder Mensch, was auch immer er tut, solange es seinem Wesen entspricht, richtig handelt, egal, ob er sich zum Künstler oder zum Staatsmann oder Beamten berufen fühlt. Der Mensch muss seinen Lebensweg um seiner selbst willen zur vollständigen Erfüllung seiner Kräfte wählen. Dadurch dient er dem Ganzen am besten. Der Mensch sei nicht zuerst der menschlichen Gesellschaft wegen da, sondern seiner selbst willen. Und wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er es auch für die menschliche Gesellschaft. (S. 13, so spricht der Vater des Ich-Erzählers zu ihm selbst)
Der Wechsel der Zeit ist das, was die Kunst und das Kunstverständnis verändert, verbessert oder verschlechtert:



  • Es ist eine sehr falsche Behauptung, die man aber oft hört, dass jedes große Kunstwerk auf seine Zeit eine große Wirkung hervorbringen müsse, dass ferner das Werk, welches eine große Wirkung hervorbringt, auch ein großes Kunstwerk sei und dass dort, wo bei einem Werke die Wirkung ausbleibt, von einer Kunst nicht geredet werden kann.

 


Hier liegt die Entscheidung beim Künstler, ob er seiner Zeit gibt, was sie will oder sich selbst treu bleibt. Auch er ist dabei dem Strudel der Zeit, den Veränderungen unterworfen.



  • Wenn aber die Begabung eines Volkes, und seien sie noch so hoch, nach einer Richtung hin in weiten Räumen vorauseilen, wenn sie gar auf bloße Sinneslust oder auf Laster gerichtet sind, so müssen die Werke, welche eine große Wirkung hervorbringen sollen, auf jene Richtung, in der die Kräfte vorzugsweise tätig sind, hinzielen, oder sie müssen Sinneslust oder Laster darstellen. Reine Werke sind einem solchen Volke ein Fremdes, es wendet sich von ihnen.


 


  • Es waren rauhe Zeiten über unser Vaterland gekommen, (…) welche nur in Streit und Verwüstung die Kräfte übten und die tieferen Richtungen der menschlichen Seele ausrotteten. Als diese Zeiten vorüber waren, hatte man die Vorstellung des Schönen verloren, an seine Stelle trat die bloße Zeitrichtung, die nichts als schön erkannte als sich selber und daher auch sich selber überall hinstellte, es mochte passen oder nicht.


Und dieser Wechsel wird wohl immer wieder stattfinden, dass ein Geschmack und eine Richtung die nächste ablöst.

Was mir an Stifters „Nachsommer“ gefallen hat, waren die tiefen Einblicke in die Baukunst und Kunst allgemein. Die Statue, die sich als wertvoller herausgestellt hat, als man sie glaubte, die Kirche, die in verschiedenem Material unterschiedliche Wirkung ausübt und wie unterschiedlich überhaupt sich Material in Zusammenhang mit dem Nutzen verändert. Auch die Suche des Protagonisten und seine Fortschritte waren aufschlussreich, (man denkt sich dabei wirklich häufiger, wie ausführlich in ihrer Freundlichkeit und im Umgang miteinander Stifters Gestalten sind, was gerade am Ende in der Ausführlichkeit gegenseitiger Gunstbezeugungen dann leicht ausartet, wenn es auch zum Gesamten passt, denn alles gipfelt in der Liebe). Auch stellt sich dem Erzähler Heinrich absolut nichts in den Weg, er lernt durch Worte (zumeist die seines Vaters und seines Gastwirtes, den er Gastfreund nennt, und deren Ansichten sich kaum unterscheiden, teilen beide Männer auch die gleiche Sammelleidenschaft und Liebe zur Kunst) und höchstens noch durch seine eigenen Wanderungen, nicht durch Erfahrungen mit bestimmten Ereignissen oder Leidenschaften, was ihn ab und zu leicht gesichtslos werden lässt. Umso schöner nehmen sich Gestalten wie Mathilde oder ihre Tochter (die alleine durch ihre Ungeduld oder den Wechsel ihrer Hautfarbe von blaß zu rot bezaubert) heraus, der Vater des Erzählers in seinen Eigenarten oder der herrliche Risach, der sowieso die schönste Gestalt dieses Buches ist.

Wie zwei ähnliche Geschichten mit unterschiedlichem Weg und Ausgang sind die des Erzählers und der Bericht Risachs, wobei dem Erzähler alles gelingt, der andere sich das Leben erkämpfen musste, nicht nur in der Erkenntnis selbst, sondern auch in der Liebe. Dieser Unterschied ist vielleicht das, was den Leser am Ende für die Ausführlichkeit der Betrachtungen und Beschreibungen entschädigt, wird dadurch sichtbar, dass ein gleiches Ziel möglich ist.

Mit Stifters Ansichten stimme ich nicht in allem überein, vieles aber war mir Bestätigung und auch ein tieferer Einblick in die Welt der Natur, der Kunst und in die Art seines Denkens. Bei vielen Beschreibungen, die Landschaften und anderes betreffend, könnte man einen tieferen Sinn hineindeuten, doch halte ich das persönlich für völlig unnötig, da die Betrachtungen sich einfach in ihrer Natur öffnen und ihre Schönheit entfalten. Sein Wesen und seine Aufgabe, die sich Stifter gestellt hat, um dem Leser etwas zu vermitteln, treten sowieso mehr als deutlich hervor, und das macht ihn und sein Werk letztendlich dann auch aus und zu dem, was es ist.


  • Tatsachen der Menschheit, ja Tatsachen unseres eigenen Inneren werden uns (…) durch Leidenschaft und Eigensucht verborgen gehalten oder mindestens getrübt. Glaubt nicht der größte Teil, dass der Mensch die Krone der Schöpfung, dass er besser als alles, selbst das Unerforschte sei? Und meinen die, welche aus ihrem Ich nicht herauszuschreiten vermögen, nicht, dass das All nur der Schauplatz dieses Ichs sei, selbst die unzähligen Welten des ewigen Raumes dazu gerechnet?




***

(Alle Zitate sind der Ausgabe - Adalbert Stifter "Der Nachsommer", Reclam - entnommen.)

 
 
 
 
(c) Annelie Jagenholz