Herman Melville

Mardi


... oder eine Reise dorthin




  „Hört, o Leser! Ich bin ohne Karte gereist. Mit Kompass und Blei hätten wir diese Inseln von Mardi nicht gefunden. Wer kühn in See sticht, kappt alle Taue und wendet sich von der gewöhnlichen Brise ab, die jedermann gewogen ist; und füllt die Segel mit seinem eigenen Atem.“



Was ist Mardi? Ein fiktiver Archipel voller verschiedener Inseln. Auf jeder leben Eingeborene mit anderen Riten und Gesetzen. Mardi ist Melvilles Gesellschaftskritik, getarnt als „eine Reise dorthin“. Seine Eingeborenen sind ebenso eitel und nach Besitz strebend, sind Einsiedler oder Könige, Halbgötter oder Verachtende, wie man sie aus anderen Gesellschaftsformen kennt, gemischt mit tatsächlichen polynesischen Eindrücken, die Melville auf seinen Reisen gesammelt hat. Im Grunde zeigt uns Melville lustige, bunte Bilder, unter denen sich das ernste Gesicht der Hinterfragung verbirgt. Das Zahlungsmittel auf Mardi sind menschliche Zähne und nicht wenige geben für diesen „Gold“ alles andere auf, schleppen riesige Beutel voller Zähne mit sich herum, die man ihnen „weniger entreißen kann als ihre Gliedmaßen“.




  • „Diese neue Welt aber, die hier gesucht wird, ist weitaus fremder als die desjenigen, der seine Schwingen von Palos her ausbreitete. Es ist die Welt des Geistes, in der sich der Fahrende verwunderter umschaut als die Schar Balboas, die durch die goldenen Wälder der Azteken streifte.
    Doch schafft glühendes Verlangen seine eigenen phantomhafte Zukunft und hält sie für Gegenwart. (…) Und wenn ich schon Schiffsbruch erleidet, dann, gebt Götter, dass ich ganz und gar zerschelle.“



Der Ich-Erzähler bricht auf einem Walfänger in die Südsee auf. Sein Freund Jarl, ein stämmiger und ihm ergebener Gefährte, flüchtet eines Nachts mit ihm vom Schiff, da der Kapitän eine andere Route einschlagen möchte, die dem Erzähler nicht passt. Es würde ihm weitere Jahre kosten.
In ihrem gestohlenen Boot bereisen sie jetzt das weite Meer, um gen Westen zu gelangen. "Gen Westen" heißt zu Melvilles Zeiten nichts anderes als weg von der Zivilisation, zurück zu den Ursprüngen, hinein in die Wildnis. Der edle Wilde steht dem Stadt- und Gesellschaftsmenschen gegenüber. Kein Wunder, dass Melville später in seinem Gedichtzyklus "Clares" die Frage formuliert:


"Am Boden liegen Ära, Mensch Nation,
Um in Erniedrigung zu schlittern?"


Der Wilde bewegt sich natürlich in seinem Umfeld, der Gesellschaftsmensch wird - eingeengt von Vorschriften, Gesetzen und Wänden - zum Sitzenden, dass sogar naturwissenschaftliche Theorien erfolgten, dass zu viel sitzen den Menschen in den Wahnsinn treiben könnte, stattdessen die Bewegung zu klarem Verstand beiträgt.


Der Ich-Erzähler und Jarl sind also nun alleine miteinander und müssen mit den geklauten Vorräten zurande kommen, darunter das wertvolle Wasser, für dessen Genuss sie einfallsreiche Regeln entwerfen.


Eines Tages treffen sie auf ein größeres und leerwirkendes Schiff. Sie gehen an Bord und versuchen herauszufinden, was geschehen ist. Während Jarl sich noch vor Geräuschen und Geistern fürchtet, stellt sich bald heraus, dass das leere Schiff dennoch zwei Bewohner hat. Zwei Eingeborene, einen Mann und eine Frau, die miteinander im Krieg sind. Beide haben die Plünderung an Bord überlebt und danach den Schatz zwischen sich aufgeteilt, wobei die Frau sich als raffgieriger herausstellt und ihren eigenen Mann bestiehlt, bis zwischen ihnen der Hass aufwallt. Auch dem Erzähler ist das Weib nicht ganz geheuer und als sie die Fahrt auf dem Schiff fortsetzen, gemeinsam die Segel setzen und das Ruder in die Hand nehmen, gibt es immer wieder unangenehme Zwischenfälle von Diebstahl, da die Frau in ihrer Gier auch vor dem Kompass oder dem Logbuch nicht Halt macht. Als ein Sturm wütend und das Schiff fast zum Kentern bringt, wird sie von einem Mast erschlagen und über Bord gespült.

Nun sind sie nur noch zu Dritt, müssen aufgrund der Schäden wieder auf ihr Boot Zuflucht nehmen. Eine Weile fahren sie miteinander und entdecken Land, als sich auf einmal eine andere Schallupe nähert. Darauf ist ein alter Priesterhäuptling mit seinen Söhnen unterwegs, um ihrem Gott ein Opfer zu bringen. Dieses Opfer stellt sich allerdings als menschlich heraus, als eine wunderschöne Frau, in die sich der Erzähler verliebt. Er beschließt, sie zu befreien, und tötet dabei den alten Priester, während ihm die Söhne böse Rache schwören.

Mit der Ankunft auf den ersten Inseln beginnt das Abenteuer. Hier werden sie als weiße Halbgötter begrüßt, der Erzähler verwandelt sich durch den Glauben der Wilden in den lang erwarteten Halbgott Taji. Bald stellt sich allerdings heraus, dass Halbgötter auf Mardi eine Art Massenware sind, fast jeder sich so bezeichnet, der etwas zu sagen hat. Auch König Media fühlt sich als ein Halbgott und lädt die drei Ankömmlinge ein, bei sich zu wohnen. Damit bildet sich eine Freundschaft, die sich durch das Buch hindurch erhält.

Das befreite Mädchen Yillah erzählt ihre Geschichte und noch bevor die Liebe zwischen ihr und Taji wachsen kann, verschwindet sie spurlos. Somit macht sich Taji mit seinen Gefährten und dem König Media, samt eines Chronisten, eines Philosophen und eines Sängers und Poeten auf, sie auf dem gesamten Archipel zu suchen. Diese sind die Sprachrohre Melvilles, durch die Taji in unterschiedliche Reflektionen und Unterhaltungen gedrängt wird. Der junge Poet Yoomy ist das Bildnis des noch unreifen Künstlers und Dichters, der auf der Suche nach seiner Stimme ist. Seine Lieder sind schwärmerisch, kitschig, kurz: Karikaturen einer Dichtung. Der Philosoph Babbalanja ist das Abbild eines zweifelnden und hinterfragenden Geistes, der aufgrund seiner etlichen Überlegungen selbst nicht mehr weiß, wer er ist, daher spaltet er sich häufiger in andere Gestalten, darunter ein Teufel, der ihn „reitet“, durch den er seine abstrusen Theorien vermittelt oder auch seinen Irrsinn offenbart. In ihm verkörpert Melville seine theologischen Zweifel. Der Chronist Mohi wiederum stellt beide beständig in Frage. Er ist auch derjenige, der zu allen Zielen die Geschichte der jeweiligen Insel kennt, die Ankunft in diesem Sinne einleitet und kommentiert.

Hier beginnt also die eigentliche Reise. Von Insel zu Insel treffen sie auf verschiedene Charaktere. Da ist ein König, der eigentlich nicht König sein möchte, da er durch seine Krone seine gesamte Freiheit einbüßt. Auch König Media ist einer jener Könige, dessen Untertanen nicht in schönen Behausungen leben, sondern in stinkenden Höhlen. Feste werden gefeiert, dem Wein gefrönt, andere Könige geladen. Sie alle zeigen ihre Masken und wirklichen Gesichter.

Neben gesellschaftlichen Normen und Dekadenz wird auch viel philosophiert. Über Glauben, Götter, das Schicksal, über den freien Willen, die Versklavung, die Notwendigkeit von einer politischen Führung, über Monarchie, Demokratie, der Freiheit per se… Über den Sinn der Philosophie, Geschichte und Poesie, selbst über Wein, Gesang und Pfeife. Auffallend häufig sind die Zechgelage, die mit zunehmenden Weingenuss in Unsinn und Geschwätz ausufern. Sie wirken wie Ruhepausen des Schriftstellers, der aber, statt zu schweigen, dennoch irgendetwas erzählen muss. Sie wiederholen sich nicht nur, sondern sind auch alle irgendwie gleich und belanglos.

Auch in diesem Werk, ähnlich wie in „Moby Dick“, zeigt sich Melvilles Kampf mit der Frage: Wer oder was ist Gott?
Die Halbgötter auf Mardi sind vielfältig, der oberste Gott aber ist Oro. Oro ist ist in allem, weil er alles ausfüllt. Weil aber so viel Leid geschieht und Oro dies zulässt, ist er nicht alleine gut, sondern auch von böser Natur.



  • „Wenn das absolut wahr ist, ist Oro nicht bloß ein universeller Zuschauer, sondern er erfüllt und besetzt allen Raum; und keinen Wesen oder Ding außer Oro bleibt noch Platz. Daher ist Oro in allem und er ist auch alles – ein Glauben, so alt wie die Zeit. Doch da Böses reichlich vorhanden ist und Oro in allem ist, kann er nicht vollständig gut sein.“



Melville vertritt in "Mardi" die seinem eigentlichen Denken entgegen gerichtete Ansicht, dass Gott und Glaube nicht hinterfragt gehören. Der Mensch muss nicht weiter nach den Mysterien suchen und zufrieden mit dem sein, was er hat, nichts als Liebe kennen.



  • „Liebe ist allumfassend. Je mehr wir lieben umso mehr wissen wir und umgekehrt.“



Der Zwang, glauben zu müssen, bringt hingegen nichts.



  • „Selbst auf den heiligen Inseln werden viele unterdrückt; werden viele wegen Ketzerei getötet; und es verhungern Tausende unter den Altären, die sich unter der Last der Opfergaben biegen.“

    (…) Doch so ist es, Brüder! die Weisesten sind gegen die Wahrheit aufgebracht wegen derer, die ihr Gewalt antun.“




Die Natur ist grausam, daher ist auch der Mensch grausam. Diese Philosophie kennt man bereits seit Marquis de Sade. Die natürliche Auslese, der Kampf um Nahrung und Revier, die Reduzierung der Anzahl an Leben durch Brot und Spiele, ggf. Krieg. Melville lässt auf seinem Archipel auch zwei Könige miteinander Freundschaft schließen, die um ihr Königreich fürchten und daher „die Spiele“ ins Leben rufen, wo sich ihr Volk selbst aus der Welt schaffen soll, damit es sich nicht so schnell vermehrt und alles mit ihrem Dasein zerstört. Da beide Könige auf eine Pest nicht hoffen können, wird das Sterben mit Spaß und Kampf verbunden. Das Volk fügt sich nicht nur willig, findet sogar Gefallen daran. Auch hier wird mit dem Glauben an das Gute böswillig gegen die Natur gehandelt.

Was darüber steht, ist für Melville doch eindeutig:


„Das Universum ist gänzlich eines Sinnes.“

Wie die Hinterfragung des freien Menschen erfolgt, so wird auch darüber reflektiert, ob die Menschen (die vielgesichtigen Einwohner Mardis) einer Führung bedürfen.



  • Die Welt dreht sich um das I im Ich; und wir drehen uns um uns selbst, denn wir sind unsere eigenen Welten. (…) Darum sollten wir, gleich wie sie sein mögen, unsere Welten offen zeigen und nicht vor den Menschen verbergen…“



Eine Reise dorthin ist, wie sich am Ende zeigt, eine Reise zu sich selbst.


„Alles, was wir suchen, ist in unseren Herzen…“


Wer hier sucht, wird finden. Wer zu dieser Erkenntnis gelangt, wird Frieden finden. So z. B. der Philosoph Babbalanja, der durch seinen neu gefundenen Glauben endlich seine Zweifel überwindet, so der König Media, der anhand der Erfahrung von Glaube und Liebe erkennt, dass auch er ein guter König für sein Volk sein muss. Allerdings trifft er bei seiner Rückkehr auf rebellierende Untertanen, die ihn stürzen wollen. Deutlich kann man hier Melvilles Auffassung herauslesen. Er ist für Demokratie, verehrt aber manche Würde eines Königs. Wenn dieser, seiner Meinung nach, seinem Volk Gutes tut, ist er würdig, es zu regieren. An der Welt aber hat sich häufig gezeigt, dass Chaos herrscht und selbst Erkenntnisse nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Manchmal, das wäre eine andere Deutung, kommen Erkenntnisse auch zu spät, wie bei König Media und seinem Volk. Zu viel ist schon geschehen, die Dinge sind nicht mehr aufzuhalten in ihrem verheerenden Lauf.
Auch Yillah erweist sich schließlich als Phantom, dem der Erzähler nachjagt. Er ist der Einzige, der von allen Suchenden scheitert. Er setzt seine Reise fort, verlässt Mardi und verschwindet im Unbekannten. Er ist immer noch ruhelos und hat aus den vielen Erkenntnissen, Erfahrungen und Eindrücken nichts gelernt. Er landet in seinem eigenen Abgrund, stirbt oder lebt weiter, was in diesem Fall das Gleiche ist.


Alles in allem war der Roman trotz vieler Perlen doch auch etwas langatmig. Man benötigt viel Luft und Zeit, um ihn zu lesen. Viele Hinweise auf andere Werke, darunter Shakespeare, Robert Burton, Platon usw. sind nicht immer gleich zu erkennen. So wurde eine Situation erst durch das Lesen von „Pierre oder die Doppeldeutigkeiten“ für mich sichtbar. Im letzten Kapitel wird Haji aufgefordert, nach Perlen zu tauchen, um Yillah habhaft zu werden. Er kehrt mit leeren Händen an die Wasseroberfläche zurück. Erst durch „Pierre“ und Shakespeare ist ein Zusammenhang erkennbar, denn die Perle steht für die Liebe und ihre Abgründe.
In „Pierre“ heißt es:

„Die Liebe blicket zehn Millionen Faden in die Tiefe, bis sie geblendet ist von perlenübersäten Grund.“

Noch lässt sich nicht eindeutig der Abgrund entdecken, der Schmerz, der gleichfalls durch Liebe erzeugt wird, während sie immer in Freude beginnt. Erst die Quelle macht ihn sichtbar.

Melville bezieht sich auf Shakespeares „Tempest“:


„Fünf Faden tief liegt Vater dein
Sein Gebein wird zu Korallen;
Perlen sind die Augen sein…“



Dass Haji keine Perle findet, bedeutet einerseits die Liebe zu Yillah, andererseits könnte man auch deuten, dass Haji nicht wahrhaben möchte, dass Yillah tot ist. Er lebt lieber weiter seine Illusion, während man um ihn herum tausende funkelnde Perlen aus den Tiefen des Meeres heraufholt.

Der Roman ist also durchaus schwierig zu deuten, dabei auch häufig surreal, ermöglicht ein Dahintreiben in exotischen Bildern und vielen philosophischen Theorien und Ansichten über Welt, Mensch, Sein und Gottglaube. Er ist Dichtung und Wahrheit, voller Metapher, Episoden, Hinterfragung und wenig Ereignis. Jede Insel offenbart eine andere Seite des Menschen, jede Ankunft weist bereits auf die Erfolglosigkeit, Yillah zu finden, hin. Melvilles Frauen sind reine Musen-Geschöpfe, und sollten sie sich einer Wirklichkeit nähern, dann sind sie charakterlich eher so, wie die Eingeborene am Anfang des Romans, die raffgierig alles stiehlt, was glänzt und leuchtet.
So fahren und fahren seine männlichen Protagonisten und kommen doch nicht an. Das aber ist die Aussage, dass irgendwann die Erkenntnis des Weges und dem Gelernten alles ist, was wir haben.




Mir hat der Roman sehr gut gefallen, und für alle, die ihn nicht lesen werden, bleiben die Perlen:


* „Selbst unsere Instinkte sind Vorurteile…“

* „Im Hinblick auf das Universum ist der Mensch nur ein Ausschnitt…“

* „Wir reklamieren Ewigkeit für unser Leben; und sind doch schon oft von unseren sterblichen Stunden gelangweilt.“

* „Wir sind mit Wundern so eingedeckt, dass wir sie gar nicht mehr für Wunder halten.“

* „Halten wir uns also mit nutzlosen Spekulationen zurück! Man braucht uns nicht zu sagen, was Recht ist; wir sind mit dem ganzen Gesetz im Herzen auf die Welt gekommen.“


* „Der erste Mensch dachte schon wie wir.“

* „Alles, was wir entdecken, hat uns schon begleitet, seit die Sonne zu rollen begann…“

* „Der Wirklichkeitssinn ist ein sturer Despot, der sich meistens durchsetzt. Er prüft und genehmigt Dinge, die gar nichts mit ihm zu tun haben.“

* „Stück für Stück, nein, Atom auf Atom wurde sie aufgeschichtet. Diese Welt ist aus Winzigkeiten gemacht.“

* „Die gesamte Autobiographie Mardis besteht aus einem Ausrufezeichen.“




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(Alle Zitate sind der Ausgabe - Herman Melville "Mardi - Oder eine Reise dorthin", btb Goldmann Verlag, Übersetzung: Rainer G. Schmidt - entnommen.)




(c) Annelie Jagenholz