Krieg und Frieden


 Teil 2



Obwohl Tolstoi ein großer Schriftsteller ist und die einzelnen Situationen, Entwicklungen seiner Figuren und Charaktere wunderbar sichtbar macht, so scheitert er häufig an der eigenen Glaubwürdigkeit.
Beim Spiel und den Verlust großer Summen zeigt sich dann eben doch, wie genial Dostojewski diese rasende Situation darstellt, und wie übertrieben und mit eher absurden Gedankenvorgängen Tolstoi sich daran versucht. Da verspielt der junge Nikolai Rostow so hohe Summen, macht weiter und weiter (wobei man sich dann doch irgendwann fragt: wieso? – hat er schließlich längst eingesehen, dass er kaum noch die Summe zurückgewinnen kann, obwohl man ihm das Setzen noch eher glaubt, als das, was in seinem Kopf vor sich geht) und denkt dabei völligen Unsinn zusammen, wie sehr er den Kartenbetrüger Dolochow (der sich hier für Sonjas Abweisung rächt) liebt und dass es ja schon in Ordnung ist und warum er nicht aufgehört hat und was er denn am Anfang nur wollte – derartig seichte Gedanken, die in so einer Situation wohl kaum ein verschuldeter Mensch tatsächlich denken würde. Tolstoi hat in seiner Jugend wohl auch häufiger gespielt und verloren, ich kann mir aber kaum vorstellen, dass er solche Gedanken beim Verlieren entwickelt hat. Hier spricht dann doch eher der Moralist und Schöpfer einer idealen Figur, der man allerdings diese Gedanken kaum abnimmt.
Besonders absurd ist die letzte Karte, die dann gewinnt. Hier hat Dolochow seine Summe, die er ihm abknüpfen wollte, erreicht und gleicht den winzigen Überschuss durch einen Sieg aus, und alles, was Rostow dazu meint, ist: ich bin müde. Ich denke doch, wenn ein Mensch so viel verloren hat und die erste und einzige Karte schließlich gewinnt, dann versucht er erst recht, weiterzuspielen, hier aber wird so getan, als hätte diese Veränderung rein gar keine Bedeutung. Nach so vielen Verlusten muss so eine Karte doch eher Hoffnungsschimmer sein oder doch wenigstens Erstaunen auslösen.
Hier gelingt Tolstoi keine Spannung. Das zeigt sich dann besonders gut an der Schnelligkeit, wie das Geld beschafft und bezahlt wird. Wiederum schön war die Szene zwischen Vater und Sohn. Was also Tolstoi vermurkst, gleicht er durch andere Sätze wieder aus. Und so wie Dolochow seine Rache genießt und den abgelehnten Heiratsantrag damit verdaut, so ist auch die Reaktion Denisows auf Nataschas Absage auf seinen Antrag knapp und humorig zusammengefasst. Fast könnte man meinen, das wäre Tolstoi unabsichtlich gelungen. Er gibt eine Abschiedsfeier, wird auf einen Schlitten gelegt und kann sich nicht entsinnen, wie das geschieht und welche die drei ersten Stationen sind. Hier darf der Leser seine Fantasie bewegen und sich vorstellen, wie mächtig der Suff ausgefallen ist, mit dem er sich tröstete. Solche Situationen wiederum mag ich.

Die Frau Pierres, die schöne Helene, die gleichzeitig die Tochter des Fürsten Wassili ist, ist in ihrer Schönheit auch ein leerer Spiegel (wie Tolstoi betont, während sich in ihrem dumpfen Kreis an Geistleere gerne kluge Männer aufhalten) und keine treue Ehefrau. Nach Dolochow macht sie auch dem jungen Boris schöne Augen, später will sie gleich zwei Männer auf einmal heiraten, während sie mit Pierre noch verheiratet ist. In dieser Fassung muss sich der Leser allerdings viel dazu denken, wenn er den Charakter Helenes einschätzen will. Nicht ganz klar wird, ob sie Pierre nun wirklich betrogen hat oder nicht, aber ihr späteres Benehmen zeigt doch, dass sie in diesen Dingen nicht ganz unbehelligt ist. (In der Urfassung wird Helenes Trieb scheinbar dann doch besser und genauer dargestellt, zumal ihr Tod ja auch ein ziemlich eindeutiger ist.) Pierre verlässt daraufhin seine Frau und tritt in den Freimaurerorden ein, was mich einige Male zum Lachen gebracht hat, da Tolstoi so übertreibt. Ausgerechnet der zaghafte und dicke Pierre gibt als sein größtes Laster die Weiber an. Ausgerechnet er, der zuvor eine Frau auf Drängen seiner Umgebung geheiratet hat und ihrer Schönheit erlegen ist. Viel eher würden noch Heftigkeit, Trägheit und Müßiggang zutreffen, aber nein, bei Tolstoi sind es natürlich die Weiber. Auch ist der Streit unter den Freimaurern, der mehrfach aufkommt, irgendwie eigenartig, zumal der Orden befiehlt freundlich, ohne Groll und Feindschaft gegen einen Bruder zu sein. All das klärt sich später aber noch ausführlich auf, so wird der Orden von einigen Leuten auch genutzt, um höher stehende Fürsten kennenzulernen oder sich durch den Eintritt anders hervorzutun. Tolstoi übt Kritik an der Loge, wie er auch später auch Kritik am Zarenerlass übt, dass Bauern gegen ihren Willen als Soldaten in die Schlacht mussten. Pierre muss schnell feststellen, dass es schwierig ist, seine Werte aufrechtzuerhalten, er beginnt Tagebuch zu führen, die Freimaurer anzuzweifeln und nimmt den Rat des Alten an, der ihn auf den Freimaurerorden aufmerksam gemacht hat und einzig umsetzt, was er gepredigt hat:



  • Die wichtigste Pflicht eines wahren Freimaurers besteht, wie ich Ihnen schon sagte, in der Vervollkommnung des eigenen Selbst. Aber wir denken oft, wir könnten dadurch, dass wir alle Schwierigkeiten des Lebens von uns fernhalten, dieses Ziel leichter erreichen. Das Gegenteil ist richtig, mein Herr! Nur inmitten der Erregungen, die das Leben in der Welt mit sich bringt, können wir die drei Hauptziele erreichen: 1. Selbsterkenntnis, denn der Mensch kann sich selbst nur durch Vergleich erkennen, 2. Vervollkommnung; denn zu dieser gelangt man nur durch den Kampf, und 3. die Haupttugend: Liebe zum Tod; denn nur die Widerwärtigkeiten des Lebens können uns von der Wertlosigkeit des Lebens überzeugen und so die uns angeborene Sehnsucht nach dem Tod oder nach einer Wiedergeburt zu einem neuen Leben verstärken.

 



 

Selbstvervollkommnung, die wir unabhängig vom Außen jederzeit umsetzen können, um dann auf andere zu wirken, ist eine wertvolle Empfehlung, die Liebe zum Tod aber bedient sich am Christentum als eine Belohnung „Tod“ gegenüber dem Leben. Dies finde ich wiederum bedenkenswert. In Pierre und seinen Veränderungen spielt Tolstoi auf den allgemeinen Wandel des russischen Adels an, der früher hauptsächlich Französisch sprach, das Russisch kaum beherrschte, mit der französischen Revolution allerdings nach russischen Werten strebte, das heißt, weg von den Hofgesellschaften und ihrer Künstlichkeit, hin zum Leibeigenen und Bauern, in denen das echt Russische mehr vorhanden war. Nur nach all diesen Veränderungen war die Entwicklung - hin zum Dekabristenaufstand - erst möglich.

Fürst Andrei kämpft währenddessen mit seinem Schuldgefühl gegenüber Lisa, zieht sich auf das Land zurück und verflucht die Welt. Er geht davon aus, dass Leben bedeutet, für sich selbst zu sorgen und keinem anderen zur Last zu fallen. Pierre öffnet ihm die Augen, dass Glück erst durch Mitgefühl und Hilfe für andere Menschen möglich wird. Andrei befreit daraufhin seine Bauern, während Pierre, der Vorreiter all dieser Ideen, auf seinen Gütern weniger Erfolg hat, da er die Aufgaben Leuten in die Hand legt, die ihn hintergehen und den Bauern, statt Erleichterungen zu verschaffen, noch mehr Arbeit auflasten. Und während Andrei an seinen Aufgaben wächst und sich durch eine alte Eiche, die knorrig und einsam seine Sicht der Dinge repräsentiert, selbst erkennt, verfällt Pierre immer mehr in Traurigkeit und Unzufriedenheit. Bald darauf verliebt sich Fürst Bolkonski auch noch in die nun sechzehnjährige Natascha und macht ihr einen Heiratsantrag, der jedoch erst nach einem Jahr Bedenkzeit für sie und ihn Geltung finden soll. Er selbst ist an den Antrag gebunden, ermöglicht Natascha aber völlige Freiheit, sollte sie innerhalb dieses Jahres aufhören, ihn zu lieben. Eine gewisse Ahnung erfasst den Leser hier schon, dass der Ausgang dieser Liebe dramatisch wird. Währenddessen reist Fürst Andrei auf Wunsch seines Vaters ins Ausland, während Natascha zurückbleibt und sich nach ihm sehnt, ihre Gefühle aber gut verbirgt.

Die Familie Rostow ist immer mehr verschuldet und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Die Gräfin hofft auf die Heirat Nikolais mit der nun vermögenden Julia. Dieser aber hängt (wenn auch leicht halbherzig) an Sonja, die auch ihn immer noch liebt. Sonja aber ist arm und abhängig von den Rostows und sie gefällt Nikolai eigenartigerweise erst dann, als sie einen Schnurbart trägt. Er gibt ihr ein Versprechen, sie zu heiraten, das ihm bald eine ganz neue Belastung wird. Es ist schön zu beobachten, wie Nikolai reifer und erwachsener wird, seiner Verantwortung bewusst. Auch ist es nachvollziehbar, dass sich seine Gefühle erneut ändern, von der Zuneigung gegenüber Sonja zu einer reiferen Empfindung gegenüber der Prinzessin Marja führt, die er aus der Menge aufsässiger Bauern rettet.

Die noch sehr unstete und junge Natascha macht gleichfalls eine erhebliche Veränderung in ihrem Wesen durch. Als sie das erste Mal in die Welt gelassen, sich gleich in einen Aufreißer und Schwerenöter verliebt, statt an die innige Liebe zu Bolkonski zu glauben, versucht sie sich nach dem Scheitern dieses Gefühlschaos, umzubringen. Nur Pierre, der sich in sie verliebt, kann sie etwas aufbauen. Aus dem sprunghaft selbstverliebten, quirligen Mädchen wird ein nachdenkliches und verzweifeltes, das die Verlobung mit Bolkonski gelöst hat und diesen dafür um Verzeihung bittet. Die ganze Entwicklung Nataschas hat Tolstoi etwas verkürzt dargestellt. Die pubertären Fehlentscheidungen sind zwar nachvollziehbar, aber mir fiel es schwer zu begreifen, weshalb Natascha einem Anatol verfallen kann, der ihr schöne Augen macht. Wohl ist es ihre eigene Selbstverliebtheit, die hier ihr Wesen regiert (die Tolstoi nicht nur einmal erwähnt), der Blick in den Spiegel, die Begeisterung darüber, Bewunderung auslösen zu können und die Macht, die ihr ihre eigene Schönheit verleiht, dennoch wirkt das alles viel zu plötzlich. Natascha – auf die Welt losgelassen – wirft alles über den Haufen, um mit einem bereits verheirateten und oberflächlichen Menschen durchzubrennen, der ihr verliebt in den Rücken starrt und sie entführen will, und all das auch noch so kurz vor der Rückkehr Andreis. (Möglich, dass mich hier allerdings auch meine Sympathie für den Fürsten leitet.) All das ist dramatisch ins Bild gesetzt.

Tolstoi vertritt die Auffassung, dass nicht ein Mensch oder eine Entscheidung oder ein Ereignis zum Krieg führen kann, sondern das Zusammenspiel aller Bedingungen und kleinsten Vorgänge. Wäre nur ein Ereignis nicht eingetroffen, hätten sich auch die anderen nicht in dieser Weise zusammengesetzt, wie es geschehen ist.
Dies veranschaulicht er häufig an schönen Beispielen, das, was sichtbar und nicht sichtbar ist. Über den Krieg sagt er:



  • Es ist natürlich, dass jemand, der den Gang einer Maschine nicht versteht, beim Anblick ihrer Tätigkeit meint, der wichtigste Teil der Maschine sei das Spänchen, das zufällig in sie hineingeraten ist und nun in ihr herumwirtschaftet und ihren Gang stört. Wer die Konstruktion der Maschine nicht kennt, kann nicht begreifen, dass nicht dieses Spänchen, welches den Mechanismus hemmt und verdirbt, sondern jenes kleine Übertragungszahnrad, das sich geräuschlos herumdreht, einer der wichtigsten Teile der Maschine ist.

 

Um seine doch etwas vage gehaltene These zu untermalen, scheut sich Tolstoi nicht, ab und an historisch ungenau zu werden. Statt mittels Fakten z. B. zu analysieren, warum Napoleon gegen die Russen unterlag, wie die schlechte Ausrüstung, die Eiseskälte oder das Feuer in Moskau, betont Tolstoi zunächst, dass die Russen hier keine Taktik anwendeten und Napoleon die Lage unterschätzt hat, die Truppen einfach durch die Umstände überrollt wurden. Soweit mag das richtig sein. Doch weshalb Moskau in Flammen aufging, ob durch Brandstifter oder andere Bedingungen, erklärt Tolstoi so, dass Moskau einfach abbrennen musste, weil es von den Einwohnern geräumt und durch Feinde besetzt wurde, denen gleichgültig war, wo sie ihr Essen über offenem Feuer kochten. Tolstoi behauptet, dass Moskau so oder so abgebrannt wäre, weil Franzosen sich dort breitmachten und die Stadt in feindlichen Händen lag.

Der Sieg Russlands über Napoleon, dessen Heer wesentlich stärker war, während Tolstoi gerade das ganze Chaos russischer Strategien und Taktiken demonstriert, ebenso das Geschwätz der Salons, in denen einfach nur „Ansichten“ vertreten werden, ohne das Ausmaß eines Krieges abschätzen zu können, geschah nicht aufgrund von guter Planung.
Auch wenn die Historiker die Taten im Nachhinein rühmen und die Lage ruhmreicher darstellen, wollten die Russen Napoleon nicht taktisch nach Moskau locken und Napoleon hat auch nicht taktisch nicht gehandelt und sich von den Umständen überrollen lassen, sondern die Lage einfach falsch eingeschätzt. Tolstoi betont, dass hier kein Genie, sondern hinter der Fassade des ruhmreichen Bonaparte immer noch ein Mensch zu finden ist, der die gleichen Fehler macht, wie jeder Mensch: d. h. er kann sich irren.

Lange erscheint der Krieg bei Tolstoi, trotz der zahlreichen geäußerten Zweifel, heroisch. Ruhm und Ehre halten sich die Waage mit dem bedauerlichen Verlust. Es wirkt nicht, als ob der Leser inmitten eines dreckigen Schlachtfelds geführt wird, sondern als ob er dabei zusehen darf, wie die Generäle, Oberbefehlshaber, Minister und verschiedene Adlige auf einem großen Schachbrett die Figuren verrücken und ihre Taktiken festlegen. Das breitet einen eigenartigen Schleier über die tatsächliche Grausamkeit eines jeden Krieges. Die Menschen fallen oder das Heer verringert sich auf soundso viel Mann. Die Verbindung mit dem Tod, dem Leid, dem Blut, Geröchel, verlorenen Gliedmaßen kann der Leser darüber kaum herstellen. Anhand der Verletzungen, die ab und an erwähnt werden, oder in dem dann wiederum beeindruckenden Bild eines, über einem dunkel schlammigen Schlachtfeld, sich ergießenden Sonnenlichts, kann sich der Leser dann seiner eigenen Vorstellungskraft hingeben und sich das Notwendige ausmalen.
Doch dann spricht Fürst Bolkonski all das wenigstens in Worten aus, was man die ganze Zeit etwas vermisst. Die feinen Herren planen und bedenken nicht die vielen Toten, wenn sie ihren Rückzug anordnen, während das ganze Opfer dann umsonst war. Krieg ist kein Schachspiel und lässt sich nicht vorausplanen. Im Augenblick des Kampfes muss gehandelt und umgedacht werden. Bolkonski geht noch weiter und spricht davon, keine Gefangenen mehr machen zu dürfen.

  • … Das ist das einzige Mittel, um den ganzen Krieg umzugestalten und ihm einen minder grausamen Charakter zu geben. So aber haben wir immer den Krieg wie ein Spiel behandelt, und das ist falsch und töricht; wir spielen die Edelmütigen usw. Dieser Edelmut und diese Empfindsamkeit erinnern an eine Dame, der übel wird, wenn sie ein Kalb schlachten sieht: Sie hat ein so gutes Herz, dass sie kein Blut sehen kann; aber sie isst dieses selbe Kalb mit Appetit, wenn es mit Sauce zugerichtet ist.


Und in diesem Sinne hat er Recht. Entweder sieht man den Krieg als das an, was er ist, samt der Opfer, Toten und Verluste, oder man führt ihn eben nicht, weil das Menschenleben über den Machtkämpfen steht. Dieses Dazwischen ist reine Heuchelei. Einen wirklich höflichen Krieg gibt es nicht. Es wird gemeutert und geplündert und getötet … ja, gemordet.


  • Wenn diese Sucht, im Krieg den Edelmutigen zu spielen, in Verruf käme, so würden wir nur in solchen Fällen in den Krieg ziehen, wo sein Zweck es wert ist, dass man um seinetwillen in den sicheren Tod geht. (…) Der Krieg ist keine Liebenswürdigkeit, sondern die garstigste Handlung im menschlichen Leben; das muss man sich klarmachen und es nicht als Spiel betreiben.


Was Tolstoi überhaupt sehr gut darstellt, ist die Inkompetenz der führenden Offiziere und Kriegsplaner. Es ist ein Wunder, dass das russische Heer überhaupt irgendwelche Siege erringen konnte, so unorganisiert es agiert und so schlecht es ausgerüstet ist. Und auch die Franzosen sind in vielerlei Hinsicht zwar stärker, aber auch nicht viel besser dran. Im Grunde war es mehr der Umstand der Ereignisse und der Zufall, der den Krieg lenkte und ihm seine Verluste oder Siege bescherte, wobei die Verluste überwogen.

 



  • „Aber die Historiker haben diesem Verfahren nachträglich, nachdem die Ereignisse sich vollzogen hatten, schlau ersonnene Gründe untergeschoben, welche als Beweise für die Voraussicht und Genialität der beiden Feldherren dienen sollten, währen diese doch in Wirklichkeit von allen willenlosen Werkzeugen der Weltereignisse die sklavischsten und willenlosesten Faktoren gewesen sind.“


Aus dem Mund Napoleons wirken die gleichen Worte „keine Gefangenen machen“ wiederum ganz anders, als reiner Akt der Grausamkeit. Er will um jeden Preis siegen und schätzt die Lage nach diesem Gesichtspunkt ein. Er hat nicht das durchdacht, was Bolkonski erschlossen hat, und daher ist seine Forderung reine eitle und gewalttätige Willkür.

Von da an ändert sich die Beschreibung des Krieges. Mit der Kälte und der Räumung Moskaus wird Tolstoi genauer. Das Elend, der Tod, die Verwundungen und Opfer werden wesentlich sichtbarer.
Und dann treten wieder solche Zwischensituationen auf, die das Bild wahnsinnig schön beleuchten und vergrößern, wie der beeindruckende Gottesdienst und der sich vor der Gottesmutter schnaufend niederlassende, sehr korpulente Oberbefehlshaber Kutusow, der kaum wieder auf die Beine kommt. Oder noch besser … der Hase im Birkenwald:

  • Mitten in diesem Wald sprang vor ihnen ein brauner Hase mit weißen Läufen auf den Weg und geriet, erschrocken über das Getrappel so vieler Pferde, dermaßen in Verwirrung, dass er lange auf dem Weg vor ihnen herlief, wodurch er allgemeine Aufmerksamkeit und großes Gelächter erregte; erst als einige der Reiter ihn heftig anschrien, warf er sich zur Seite und verschwand im Dickicht.



Als sich dann auch noch Pierre wider die Vernunft in den Krieg stürzt, da ging mir dann doch das durch den Kopf, was auch die fragenden Soldaten dachten:

  • „Alle blickten sie mit dem gleichen unwillig fragenden Ausdruck nach diesem dicken Menschen mit dem weißen Hut hin, der sie ohne vernünftigen Grund in Gefahr brachte, von seinem Pferd getreten zu werden.“


… und vor allen Dingen sich selbst. Wieso, dachte ich mir, muss er sich das jetzt beweisen, wo er nicht einmal reiten kann, an anderer Stelle doch besser aufgehoben ist und hier gar nichts tun kann, außer Chaos anzurichten. Wie ein kleines Kind wird er auf die berüchtigte Schanze geleitet, wo es etwas weniger gefährlich sein soll, um sich die Schlacht von dort aus ansehen zu können. Pierre Furchtlosigkeit und Gutmütigkeit ist reines Unwissen darüber, dass eine Kanonenkugel „auf einen niederquatscht“ und einem „die Därme heraus“ drückt. Und all das hat natürlich dann in der Grausamkeit auch seine Wirkung.

Nach diesen Erlebnissen ist Pierre ein anderer Mensch. Noch steht er völlig unter Schock, irrt durch Moskau, das verlassen und angezündet wird, rettet ein Kind und wird als einer der Brandstifter verhaftet. Fünf andere Mittäter werden vor seinen Augen erschossen und ihm prägt sich diese Ungerechtigkeit inmitten des bereits überall geschehenen Unglücks verstärkt ins Gedächtnis. Als russischer Kriegsgefangener erkennt
Pierre endlich, was das Leben tatsächlich ausmacht, und spürt ein unsagbares Glück, ein bald darauf tiefes Vertrauen zum Leben. Er weiß zu schätzen, was er verloren und gewonnen hat. In der Kriegsgefangenschaft konnte er feststellen:



  • Das Fehlen des Leides, die Befriedigung der Bedürfnisse und als Folge davon die Freiheit in der Wahl der Beschäftigungen, d. h. in der Art der Lebensführung, das stellte sich ihm jetzt als das zweifellos höchste Glück des Menschen dar. Erst hier und erst jetzt lernte Pierre zum ersten Mal im vollen Umfang den Genuss des Essens schätzen, wenn er hungerte, den Genuss des Trinkens, wenn er durstete, den Genuss des Schlafens, wenn er müde war, den Genuss der Wärme, wenn ihn fror, den Genuss des Gespräches mit einem Menschen, wenn ihn verlangte, mit jemandem zu reden und eine menschliche Stimme zu hören. Die Befriedigung der Bedürfnisse (gute Nahrung, Reinlichkeit, Freiheit) erschien ihm jetzt, wo er alles dies entbehren musste, als das vollkommene Glück, und die Wahl der Beschäftigung, d. h. die Art der Lebensführung, erschien ihm jetzt, wo diese Wahl für ihn so beschränkt war, als eine ganz leichte Sache. Er bedachte dabei nicht, dass ein Überfluss von Annehmlichkeiten des Lebens die ganze Glücksempfindung über die Befriedigung der Bedürfnisse vernichtet und dass eine weitgehende Freiheit in der Wahl der Beschäftigungen, jene Freiheit, die ihm in seinem Leben seine Bildung, sein Reichtum und seine gesellschaftliche Stellung gewährt hatten, sowohl die Wahl der Beschäftigungen unendlich erschwert als auch sogar das Bedürfnis nach einer Beschäftigung und die Möglichkeit einer solchen vernichtet.

 




Zum Ende hin kommt wahrlich noch einmal eine mächtige Spannung auf. Sowohl die äußeren Ereignisse des Krieges, der Besetzung Moskaus durch die Franzosen, die Plünderungen, der Brand, die Kälte, die Flucht der Franzosen und die Gefangennahme russischer oder französischer Soldaten, die mit dem jeweiligen Heer selbst an Hunger sterben, das ganze Elend und die Not sind mitreißend ins Bild gesetzt. Dennoch wunderte ich mich über Piere, der seinen kranken Freund meidet und ihn sitzen lässt, bevor er erschossen wird, ohne auch nur den Hauch eines schlechten Gewissens zu verspüren. Mag sein, dass ihn die Erkenntnisse gewandelt haben, dass das Glück, dass er nach der Befreiung und im Aufbau Moskaus empfindet, ihn vergessen lassen, wie er gehandelt hat, möglich auch, dass das Leid und die Umstände davor zu grausam waren, als dass er bestimmte Gefühlsregungen noch empfinden kann, dennoch sieht er in diesem hinter ihm abgeknallten Mann einen göttlichen Narren, auf den er immer wieder mit Liebe zurückkommt, während er ihm zuvor nicht einmal in die verschleiert blauen Augen blicken konnte.
Was aber überhaupt seine Veränderung angeht, die hat mir gefallen, dass er zu schätzen weiß, was er am Leben gewonnen hat und auch seine Begegnung mit Natascha, die ihrerseits durch den Tod des Fürsten Andreis so viel durchgemacht hat, war beeindruckend, wenn auch im Gesamtausgang dann doch stark verkürzt von Tolstoi dargestellt. Statt im Epilog sieben Jahre weiter zu driften, hätte er hier ruhig noch ausführlich werden können, wie Pierre und Natascha sich finden. So finde ich, wenn überhaupt, hätte der Roman mit der Begegnung Nikolais und Marjas dann gerne enden dürfen.


Und nun … zu diesem eigenartigen Epilog. Diesen (bis auf die Zusammenfassung über Napoleon) fand ich dann wirklich leicht gruselig. Nicht nur, dass Tolstoi über das eigentliche Zusammenkommen beider Paare schnell hinwegwischt und gar nicht mehr darauf eingeht, wie sich die Dinge entwickeln (auch nicht auf den Konflikt durch das gemachte und wieder gelöste Versprechen gegenüber Sonja, die einfach Teil der Familie wird, während sie und auch Nikolai zuvor doch etliche widersprüchliche Gefühle durchströmten), so kreiert Tolstoi auch aus seinen Figuren auf einmal ganz andere Charaktere und setzt Bedingungen, wie sie nach seinem Maß zu sein haben.

Besonders unangenehm ist die Beziehung zwischen Nikolai und Marja, die mich stark an die Atmosphäre in Tolstois eigenem Haus erinnert. Aber auch Pierre und Natascha nehmen einen ähnlichen Platz ein, über die Tolstoi einen Vorwurf gegen die eigene Frau erhebt. Pierre gerät zum Pantoffelhelden (der ab und an auf Urlaub gehen darf, um sich dann, obwohl (mit besonderer Betonung Tolstois) unschuldig, böse Vorwürfe anhören muss), genießt aber die Sklavenarbeit seiner Frau, solange er sich an ihre Vorschriften hält. Die vollblutige und brennende Natascha wird ein dickes, fruchtbares, reizbares „Muttertier“, gleichzeitig zur eifersüchtigen Megäre, ist aber trotzdem ihrem Mann völlig ergeben und liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Sie lässt sich gehen (und freut sich – widersprüchlich genug – dann aber doch über einen mit Perlen besetzten Kamm, wie er damals Mode war), stellt für ihn alles zurück, was sie zuvor noch ausgemacht hat, was dann wiederum unglaubhaft ihren Charakter so stark verändert, wie er zuvor durch das Leid, die Wandlung, den Kummer (und wie schön war sie hier in ihrer Blässe und ihrem Sein) vielversprechend war, dass es auf mich wirkt, als schöbe Tolstoi zu guter Letzt einfach seine Figuren in sein moralisches Schemata und besonders die Frauen, die nach seinem Geschmack geformt immer (für den Mann und nur für diesen) opferungsbereit sein müssen (besonders, wenn sie zuvor eine eindrucksvolle Persönlichkeit waren, die dann perfekt mit dem Schatten des Mannes verschmilzt, ohne noch sie selbst zu sein), die (nicht freudig, sondern selbstverständlich) ihre Talente zurückstellt und Dienerin für Mann und Familie ist, dabei keinen Wert mehr auf Äußerlichkeit und ihre eigene Schönheit legt, da dies alles nur Nebensächliches und für den Ehegatten, der sie bereits besitzt, keine Rolle mehr spielt, der dann wiederum lieber auf seine Felder verschwindet und ganz und gar in seinen Interessen aufgehen kann, an denen er die Frau nicht teilhaben lässt, da er sich nicht mit „Weibergeschwätz“ abgibt.
All das ist ein Hoch und Tief voller Widersprüche. Im Grunde sind das dann wohl traumhafte Bedingungen – für den Mann. Die Frau dagegen wirkt nur gewollt glücklich und ist darum vielleicht auch beständig gereizt? (Und… hat sie in den Augen Tolstois überhaupt ein Recht auf ein eigenes Glück, das nicht in der Sklavenarbeit für den Mann liegt? Wohl kaum. Wie gut, dass selbst Streitgespräche dem Ehegatten hinterher seine eigenen Gedanken aus dem Mund der wieder versöhnten Frau offenbaren, gegen die sie zuvor so standhaft angekämpft hat.) Diese ganzen Veränderungen als dargestellter Ehealltag sind so unangenehm zu lesen, vernichten den Schimmer literarischer Weite und verkürzen diese auf zickig glanzlose Vorwürfe, die Mann und Frau sich notgedrungen machen. All das hat in so einem Roman dann eigentlich nichts zu suchen.

Auch wechseln bei Tolstoi die Figuren das Gesicht und werden sogar zum Autor selbst, was besonders schlimm in eben diesem Epilog auftritt und nach meinem Geschmack zu viel Privat- oder sogar Intimsphäre preisgibt. Vergleicht man Dostojewski, der keinen Standpunkt einnimmt, sondern seine Figuren in den tiefsten seelischen Prozessen auslotet, so sind Tolstois Charaktere simple Schablonen seiner Meinung. Und wo sie im Roman zuvor so schön alle ihre eigenen Entwicklungen durchmachen und lebendig sind, gerät z. B. Nikolai gerade in diesem völlig missratenen Epilog zu Tolstoi selbst, einem Tolstoi mit schlechten Manieren. In seinen Ansichten schimmert eine bedingungslose Erwartung und Kälte durch, die mich, als Leser, irgendwie kalt erwischt und ihn mir sehr unsympathisch werden lässt. Zum Beispiel sagt er, obwohl er zuvor noch annehmbar liebevoll als Vater (der natürlich seine Rechte auf Egoismus hat) dargestellt wird, über (s)ein Kind, es sei… „ein Stück Fleisch, weiter nichts“. Ähnlich ergeht es mir mit Natascha, die ganz und gar Tolstois Bild seiner eigenen Frau wird, von der er als Mann keine sehr gute Meinung hat.

Ich finde, mit dem völlig unnötigen Epilog hat Tolstoi viele vorangegangene, schöne Eindrücke, die den Roman im Gesamtbild natürlich trotzdem weiterhin ausmachen, auf eine gewisse Art und Weise zerstört, so dass man das Werk dann doch etwas genervt zuschlägt. Hier steht der Schriftsteller mit seinem erigierten Zeigefinger und erklärt, was selbst aus den schönsten seiner Figuren werden kann und in mancher Hinsicht auch werden muss. Wozu? Hat er doch alles zuvor so prächtig erschaffen und hätte, wenn es denn für ihn so notwendig ist, aus den vielfältigen Charakteren einen wählen können, der seinem – leicht morbiden – Geschmack entspricht. So aber ist der ganze Epilog missraten und verweist bereits auf den Tolstoi, der im späteren Leben immer fanatischer und unangenehmer in seinen Überzeugungen wird, der insbesondere sein Privatleben zur öffentlichen Schau macht, ein Los, dass man keiner Familie zumuten sollte. Und dennoch ist auch das irgendwie wieder… ganz Tolstoi.






(Alle Zitate sind entnommen aus Leo Tolstoi's "Krieg und Frieden", Insel Verlag, Übersetzung Hermann Röhl)



 (c) Annelie Jagenholz