GUSSAROW


 

Als mein Urgroßvater, Wanka Gussarow, elf Jahre alt war, hörte er, nach dem Willen des Zaren Alexander Nikolaijewitsch, auf, ein Sklave zu sein. Doch ehe wir uns richtig in die Freiheit einleben konnten, stopfte man uns die „Prawda“ und die Aprilthesen in den Mund, damit wir sie Jahr für Jahr von morgens bis abends durchkauen und die Welt ringsum nicht sehen.

 




Mein Vater der Bonze“ ist ein tragisch komisches Buch. Gussarows Stil ist angenehm, sein Bericht humorvoll und auch selbstkritisch. Ehrlich und wunderbar locker beschreibt er die tragischen Dinge seines Lebens, ohne jemals den eigenen Humor zu verlieren. Das macht dieses Werk so leicht, trotz der Schwere seines Inhalts.

Neben Tarsis war auch Gussarow in einem Irrenhaus. – „Deshalb sind Psychiater die letzte Hoffnung. Ist ein Beschuldigter nervös, heißt es – nicht normal; ist er ruhig – er begreift seine Lage nicht; beteuert er seine Unschuld – geistig behindert.“ - Gussarow berichtet ausführlicher als Tarsis (auch nicht fiktiv, sondern von wirklichen Bedingungen), dabei eindringlich und bissig, betrachtet sowohl die Kindheit als auch seine spätere Entwicklung und schließlich seine Verhaftung .


Sein Werdegang ist bezeichnend. Geboren wurde er am 15. September 1925. Er arbeitete als Schauspieler, wurde 1952 als Regimekritiker verhaftet und in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, danach noch etliche Male unfreiwillig „hospitalisiert“, war nach seiner Freilassung erneut als Schauspieler auf den Bühnen, vor der Kamera, bis er diese Autobiografie schrieb, die im Samisdat verbreitet wurde und durch die er seine gesamten Rechte verlor. Heute verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Gelegenheitsarbeiter.

Hinzu kommt, dass er der Sohn eines ZK-Sekretärs war. Er erzählt von den Privilegien dieser „goldenen Jugend“, die Kinder hoher Parteifunktionäre genossen. Für ihn war dieses Leben wie ein „Leben auf dem Mond“, fernab der Vorgänge und Verhaftungen, Denunziationen und der politischen Entwicklung. Er genoss mit seiner Familie die schönen Wohnungen, das reichliche Essen, das Fahren mit Chauffeur, die Narrenfreiheit.

Er sagt, er hätte unter diesen Bedingungen lange Zeit nichts von der Kritik am sowjetischen Regime mitbekommen, keiner machte den Mund auf. Sein Vater war eine Autorität, seine Tante bei der Tscheka. Er selbst sei kein Sklave des Regimes gewesen, wie er behauptet,  sondern auf lange sein „Anhänger und Verteidiger“.

Bis sich das Blatt wandelt. Als er Schauspiel studiert, bemerkt er zunächst noch nicht, was bereits alles als „staatsfeindlich“ gilt. Seine Blindheit beruht auf eben jener Erziehung und dem ständigen Umgang mit hohen Parteibonzen. Er genießt die Privilegien, bekommt ein Stipendium und erkennt erst nach und nach, dass z. B. jüdische Kommilitonen, obwohl wesentlich besser und begabter, nicht nur kein Stipendium erhalten, sondern auch noch der Akademie verwiesen werden. Überhaupt sind ausländische Namen den skeptischen Blicken der Fanatiker und Regierungstreuen unterworfen und erfahren bald die Konsequenzen.

 

Als er während des Krieges zu trinken beginnt und aus diesem zurückkehrt, wird er, da er der Sohn eines Funktionärs ist, häufig wieder von der Miliz entlassen, wenn er gepöbelt oder in seinem Suff gewisse Dinge herausgegrölt hat, die andere nicht wagen, auszusprechen.  Hier muss man dann doch ganz klar sagen, dass er, im Gegensatz zu vielen „wirklich“ Unschuldigen, die nicht einmal tatsächlich Kritik geübt haben, sehr wohl ausgesprochen hat, was ihm an Stalin und dem Regime nicht passte, weshalb er in seiner Autobiografie auch häufig seine Schuld einräumt. Dieser Widerspruch zwischen dem Verweis auf die furchtbaren Umstände und das eigene Einsehen, dass man zu gewissen Zeiten bestimmte Dinge nicht sagen darf, zeigt sich in seinen Zeilen sehr deutlich und gibt hervorragend das allgemein vorherrschende Schwanken in den Ansichten wider. Natürlich ist all das, was er wiederum sagt (nach heutiger Auffassungsgabe) kaum tatsächlich staatsfeindliche Propaganda oder rechtfertigt sogar eine Verhaftung, dennoch könnte man meinen, ein Mensch, der all das anspricht, sollte sich in einer anderen Lage befinden, als z. B. all die, die nichts verbrochen hatten, was nicht der Fall war; darunter all jene, die sich weigerten, jemanden zu denunzieren, die durch andere Menschen verraten wurden, die scharf auf ihre Wohnungen waren oder aus noch kleinlicheren Gründen denunzierten (weil z. B. der Ehepartner ihnen nicht mehr passte), die aus dem Krieg als Kriegsgefangene zurückkehrten und als Verräter galten.

 

  • „Eine Prawda-Nummer enthielt ein Gespräch Stalins mit einem ausländischen Korrespondenten: „Nicht ein Haar wird den heimkehrenden Gefangenen gekrümmt werden. Dafür übernimmt die sowjetische Regierung die volle Garantie.“ Die Heimkehrer suchten später lange in den alten Zeitungsbündeln der Lager nach dieser Nummer und fanden sie nicht. Auch in der Lenin-Bibliothek ist sie nicht vorhanden. Offenbar wird sie anderswo aufbewahrt.“

 

Der ironisch tragische Ton ist hier gut herauszuhören. Diese Menschen machten sich alleine dadurch schuldig, weil sie überlebt hatten. Wer dazu auch noch versuchte, die Wahrheit zu sagen und seine Unschuld zu beteuern oder zu beweisen, verscherzte es sich von vorneherein mit dem Untersuchungsrichter, wurde härter bestraft, so war es für viele einfacher, die Vorwürfe gegen sie einfach zu bestätigen und die Strafe entgegenzunehmen.

 

Die Nuancen von Schreck und Humor in Gussarows Bericht sind wirklich stark. So spricht er am Anfang z. B. von seiner Großmutter:


  • „Es heißt, sie habe Vater als Kind kräftig verdroschen, ihm sogar die Zunge mit einer Nadel durchstochen, weil er unflätig geflucht habe. Doch mich rührte sie nicht an, vermutlich, weil ich mit der Polizei drohte. Wenn ich auch noch in die Hosen pinkelte, meine Rechte kannte ich.“


 

Oder über seinen Vater, um seinen Charakter besser zu verdeutlichen:


  • „Neuerdings fängt Vater, wenn er in Fahrt ist, an, mich mit „Sie“ anzureden, als spräche er vor einer Parteiversammlung …“


 

Oder später von seinen Schauspielerfahrungen:



„Leider schafften es nur geniale Schauspieler, in der siebenundneunzigsten Aufführung mit der gleichen Anteilnahme zu spielen wie in der Premiere.
Schon nicht mehr in Rjasan, sondern im Moskauer Bezirkstheater des Jungen Zuschauers spielte ich den Wladimir in Rosows „Viel Erfolg“. Bei einer auswärtigen Aufführung machten wir Schauspieler ordentlich „Fez“. Vorgesetzte waren nicht da, und auf den Zug mussten wir noch über eine Stunde warten. Jeder versuchte, den anderen mit Eigenschöpfungen zu übertrumpfen, so dass es mir schließlich zu viel wurde und ich mir vornahm, korrekt und ernst zu spielen.
Am Ende der Vorstellung stürzte der Regieassistent hinter den Kulissen auf mich zu und gratulierte mir. Ich hatte statt „Wir beide blicken“ gesagt: „Wir beide ficken…“, und war außer Konkurrenz.“


 

Während sich die Schauspieler also gegenseitig aus dem Konzept zu bringen hoffen und die Worte verdrehen, so z. B. ruft einer aus: „Ich kotender Stinker“, statt „ich stinkender Köter“, oder noch besser, wenn der eine Schauspieler sagt: „Das macht den Fohl nicht kett.“ und der andere darauf antwortet: „Kommt drauf an, welcher Fohl.“,  muss Gussarow mit leichtem Schreck feststellen, dass hinter den Kulissen gegrölt wird, auf der Bühne geprustet, jedoch im Zuschauerraum der Ernst andauert, keiner das Gesicht zu einem Lächeln verzieht. Das nun wieder besagt viel über das Publikum. 

Als Gussarow die Rolle „Lenin“ spielt, erfährt er viel Bewunderung. Eine alte Frau beginnt ihn sogar mit ihren Problemen zu traktieren, weil sie ihn für Lenin hält.

 

Als er im Suff von den "Stalinischen Bastarden" spricht und beginnt, die „Internationale“ zu singen, kommt auch für Gussarow die Stunde der Wahrheit. Er wird verhaftet und eingesperrt. Die „Verrückten“ gleichen sich in ihrem Schicksal. Die romantische Vorstellung Gussarows von einer Lagerzeit voller Ruhe und Schachspiel verflüchtigt sich durch die Wirklichkeit. Er hört von Folterungen, von der Willkür des Gesetzes, von der Gleichgültigkeit der Bewacher. Die Neuen werden daran erkannt, dass sie noch die wässrige Suppe verweigern oder tatsächlich darüber nachdenken, was sie ihren Kindern zum Geburtstag schenken. Sie, wie auch Gussarow, glauben noch an gerechte Urteile, hoffen auf ihre Entlassung, da sie unschuldig sind, und werden eines Besseren belehrt. Trotzdem hat Gussarow das Glück, dem allen nicht zu begegnen. Viele Berichte aus dieser Zeit erzählen von Ungerechtigkeiten, Prügel, Vergewaltigung, Untergrabung der Menschenrechte, Erschießungen und anderem. Gussarow muss all das nicht über sich ergehen lassen. Ihm wird "lediglich" die Freiheit entzogen.

 

Neben den vielen Menschen, die mit ihm in der Irrenanstalt sind und die Gussarow großartig beschreibt (für mich auch besser als Tarsis, der diesen Charme und ganz spezifischen Blick nicht so gut entwickelt und seine Figuren vielmehr als Rolle denkt, während Gussarow von echten Menschen samt ihrer Macken spricht – „Majestätisch schritt er über den Gefängnishof, die Glatze mit einem Taschentuch bedeckt, einen Band Marx unter dem Arm.“), erzählt Gussarow auch von der Reaktion auf den Tod Stalins, den Unglauben, die absurden Moskauer Prozesse gegen die jüdischen Ärzte, die Reaktionen danach, von wunderbar menschlichen Begegnungen. Auch gibt Gussarow ein großartiges Insider-Wissen weiter, wie sich die Menschen z. B. vor Spitzeln warnten oder wie die Wohnsiedlungen, die Chruschtschow errichten ließ, bezeichnet wurden, als ein Wortspiel  wurde aus „truschtschoby“ (Slums) und dem Namen des Staatsoberhaupts die Bezeichnung: „Chruschtschoby“.

 

Die Aufzeichnungen Gussarow sind in drei Teile geteilt. Der erste handelt von seiner Kindheit und dem ZK-Milieu seiner Familie, der zweite beschreibt den Aufenthalt in der Irrenanstalt, der dritte handelt von seiner Freilassung und den neuen, auf ihn zukommenden Problemen, darunter die Trennung von seiner Frau, die zwar einen anderen heiratet, aber immer wieder bei ihm auftaucht und seine Geliebte ist, und der schmerzhafte Tod seiner Mutter, die bis zum Ende die Sowjetmacht liebte. („Im Lauf ihres Lebens hatte Mama alles von Marx und Engels abgeschrieben, ein Berg dicker Hefte hatte sich angesammelt. Ich packte sie zusammen und trug sie samt den Quellen zur Sammelstelle für Altpapier. Welch verpfuschtes Leben!“) Die Mutter erkrankte und starb an Krebs. Die sowjetischen Krankenhäuser nahmen allerdings keine Krebspatienten auf, so musste die arme Frau Schmerz simulieren, damit sie behandelt werden konnte. Freilich gab es auch andere Krankenhäuser, in denen Geld ausreichte, um aufgenommen zu werden. Und dann gab es noch diese wenigen, in denen das Geld nicht mehr genügte. Einzig Ergebenheit war das Kriterium.


Über den zweiten Teil der Aufzeichnungen heißt es: „Dieses Exemplar hat einen Sommer und einen Winter in der Erde gelegen, ist stockig und schimmlig geworden.“ Als Gussarow endlich wieder entlassen wird, findet er keine Arbeit. Er beteiligt sich an einem Wettbewerb und wird dem Anschein nach am Theater genommen. Dass er im Pass die Eintragung hat, dass er im Butyrka Gefängnis war (dort allerdings nur auf der Krankenstation), bringt sofort neue Schwierigkeiten mit sich. Als die Eintragung entdeckt wird, spricht man schnell von einem zweiten Vorsprechen, das dann niemals stattfindet. Weitere scheinheilige Absagen aus gleichem Grund (selbst als er auf die Idee kommt, sich durch die Beziehungen seines Vaters (immer noch Funktionär) einen neuen Pass ausstellen zu lassen) folgen. Gussarow verfällt erneut dem Suff.

 

Schließlich kommt er beim Film unter.


  • „Die Arbeit beim Film ist uninteressant. Man fühlt sich wie eine Marionette. Nicht die Aufnahme, in der du gut gespielt hast, wird genommen, sondern jene, in welcher der Regen hinter dem Fenster besser herauskommt.“

 


Interessant war auch der Bericht über eine amerikanische Ausstellung (unter den neuen „Freiheiten“ unter Chruschtschow), wo Gussarow Pepsi Cola trinkt und die Menschen sich wundern, dass die Amerikaner ihre eigenen Staatsoberhäupter in Frage stellen. Auch hatten die Amerikaner geplant, das russische Volk umsonst zu bewirten und zu verpflegen, was die sowjetischen Behörden als Provokation empfanden und nicht gestatteten.

 

Als Solschenizyns Werk „Iwan Denissowitsch“ herauskommt und Gussarow es liest, fasst er richtig zusammen, dass es sich hier nicht so sehr um einen Schriftsteller handelt, der sich durch ein überragendes Erzähltalent auszeichnet (zumindest in diesem ersten Roman noch nicht), stattdessen aber gründliche Kenntnisse der Materie besitzt und daher viele Menschen anspricht und die Ereignisse hervorragend darstellt. Er ist so begeistert von ihm, dass er ihm einen Brief schreibt und ihm anbietet, in seine Wohnung zu ziehen. Die Wohnungsnot in der Sowjetunion ist bekannt, Solschenizyn antwortet tatsächlich. Sie treffen sich, finden einander sympathisch, allerdings ist bis dahin Gussarows Großmutter bei ihm eingezogen, so dass Solschenizyn von einem Einzug absieht.

Durch ihn fühlt sich Gussarow schließlich angeregt, selbst zu schreiben und zu berichten, was er erlebt hat. Diese Aufzeichnungen sind das Resultat. Auch tippte Gussarow, einmal in die Materie hineingefunden, etliche Manuskripte für den Samisdat, darunter auch „Gratwanderung“ von Jewgenia Ginsberg oder die kritischen Sachen von Milovan Djilas.
Dazu sagt er:
 

„Jene pikante Situation, in der ein verantwortlicher Tschekist seine Samisdatexemplare vor seinem Sohn versteckt, der wiederum seine vor dem Vater verbirgt, scheint mir durchaus der Wahrheit zu entsprechen.“


Die Leute warnen ihn: „Er tippt, bis er ausgetippt hat.“ Und bald wartet auch schon der „Rabe“ vor seinem Haus und er wird wieder in ein „Krankenhaus“ gebracht. Etliche persönliche Sachen werden beschlagnahmt und als er wieder entlassen wird, hat man ihn „zu Tode kuriert“:


Danach folgen noch einige lustige Berichte über seine Saufereien. Darunter wird er von drei Frauen ausgeraubt und wundert sich auf dem Polizeirevier, dass die Miliz mehr an ihm als an den Damen interessiert ist… da lässt er es lieber sein. Ein anderes Mal wird er betrunken auf der Polizeistation selbst ausgeraubt. Als er darum bittet, ihm wenigstens etwas zum Anziehen zu geben, bekommt er sein eigenes Sakko zurück, eine fremde Hose und seine leer geräumte Brieftasche. Auch sein Kugelschreiber wurde gegen einen schlechteren ausgetauscht. Er lächelt darüber und erklärt, dass er den Edelmut der Polizisten zu schätzen wüsste, da ihm Straßenräuber gar nichts gelassen hätten. Diese Beispiele zeigen wunderbar jenen Humor, der dem Buch innewohnt.

 

Sollte man nun Gussarows Buch in einem Satz zusammenfassen, so eignen sich hervorragend seine eigenen Worten, um den Inhalt ins Bild zu rahmen:

 

„Ich bin glücklich, dass ich trotz meines liederlichen Lebens in der Nähe der Historie „herumgetorkelt“ bin, wenn auch nicht in ihrer lichtesten Periode.“

 

Gussarows Aufzeichnungen sind ein Werk, das mich aufgrund seines Themas  interessiert hat, das sich aber durchaus auch literarisch und im Erzählstil bewährt hat.



(Alle Zitate stammen aus: Wladimir Gussarow "Mein Vater derBonze",Ullstein Verlag - Kontinent)


(c) Annelie Jagenholz