Samuel Butler


Der Weg allen Fleisches

 



Jede Wandlung ist eine Erschütterung; jede Erschütterung ist ein Tod pro tanto.

 



Samuel Butler wurde am 4. Dezember 1835 in Langar in England geboren. Er war Schriftsteller, Komponist, Maler und Philologe, starb 1902 in London. Der Roman „Der Weg allen Fleisches“ erschien posthum und ist autobiografisch angelehnt. Butler selbst studierte, wie seine Protagonisten Theobald und dessen späterer Sohn Ernest, in Cambridge, überwarf sich mit seinem Vater und ließ die eigene Familie hinter sich. Daraufhin wanderte er nach Neuseeland aus und züchtete Schafe.
Fünf Jahre später kehrte er nach England zurück und schrieb mehrere Bücher, darunter auch das bekannte und satirische „Erewhon“ (eines der Bücher, die ich als nächstes lesen werde), in denen er, wie auch in „Der Weg des Fleisches“ die religiöse und gesellschaftliche Doppelmoral entlarvt.

Butler glaubte an die Traditionen, war zunächst von Darwin begeistert, durch den er Gott und seinen eigenen Glauben in Frage stellte, bis er für sich einen Mittelweg fand.
Im Roman wird mehrmals die Auferstehung Jesus‘ hinterfragt und welche Auswirkungen sowohl die Überzeugung einer wirklichen Auferstehung als auch der Verlust des Glaubens an ihre Realität auf die Menschen und ihre moralische Einstellung zur Welt haben könnte. Auch werden Vergleiche gezogen zwischen der gebildeten und der armen Schicht, wobei Butler zu dem Schluss kommt, dass die Armen nicht zu bedauern sind und die Reichen nicht zu bewundern.
Ein weiterer Hinweis auf das Autobiografische ist die Entwicklung zum Schriftsteller und Komponisten seines Protagonisten Ernest Pontifex. Butlers Werk hatte durch seine psychologische Darstellung einen großen Einfluss auf James Joyce, ebenso auf D. H. Lawrence oder H. G. Wells.

In seinen Romanen versucht Butler auch zu vermeiden, vorgefassten Ansichten zu entsprechen. So sagt sein Ich-Erzähler mit einem Augenzwinkern über einen Reisebericht:



  • „Als ich es las, hatte ich das Gefühl, dass der Autor von vornherein entschlossen war, nur das zu bewundern, was zu bewundern ihm Ehre einbrachte, und Natur und Kunst nur durch die Brille zu betrachten, die ihm durch viele Genrationen von Eingebildeten und Heuchlern vererbt worden war.“




„Der Weg allen Fleisches“ geht zurück ins viktorianische Zeitalter und ist mit einem entspannend leichten und humorvollen Stil geschrieben. Dabei werden drei Generationen, von denen zwei eine geistliche Laufbahn durchlaufen, ins Bild gesetzt. Erstaunlich ist, wie schön Butler es schafft, die Sympathien des Lesers mit der jeweiligen Entwicklung seiner Protagonisten zu beeinflussen und und zu verändern. Er lenkt, ohne zu lenken, trifft damit den Lebenskern genauer als alleine in ironischen Verweisen auf das, was manchmal im Leben so schief läuft.

Alles beginnt mit George Pontifex, der es zu Reichtum und Ansehen bringt, wobei Butler schelmisch bemerkt:

  • „Es ist weitaus ungefährlicher, zu wenig zu wissen, als zu viel.“


Dessen Charakter beschreibt er wie folgt:

  • „Mit seinem Geld ging er nie unüberlegt oder verdrießlich um, und das war vielleicht der Grund, weshalb er und sein Geld so gut miteinander auskamen.“


Diese Einstellung zum Geld und die Liebe, die er ihm zukommen ließ, steht diametral zu dem Verhältnis, das er zu seinen Kindern hat. Diese sind Belastung und fordern nicht zur Liebe heraus. Zwei Söhne bekommt er mit seiner Frau, der eine ist geschäftstüchtig, der andere zurückhaltend. Letzterer ist auch der, der näher betrachtet wird und heißt Theobald, der unter der harten Hand seines Vaters zu leiden hat. Gerade jene zuvor genannten Lesersympathien werden an ihm und seiner Entwicklung besonders schön deutlich, denn das Kind ist noch unschuldig und man verzeiht ihm vieles, wo er unter der Lieblosigkeit des Vaters aufwächst. Doch obwohl er keine schöne Kindheit hat und ständig gequält wird, verfällt auch er, sobald er verheiratet ist und Kinder hat, in das gleiche Muster, zeigt das gleiche geizige Gesicht und die Vorliebe, seine eigenen Kinder zu schlagen und zu demütigen.
Diese übereinstimmende Entwicklung scheint Butler als typischer Verweis darauf zu dienen, dass sich viele Väter ihren Kindern gegenüber so benehmen und kein Kind aus den Fehlern der Eltern lernt geschweige denn, die eigene Erziehung umdenkt. Butler betont häufiger, dass gerade in Familien Geistlicher dieser Charakter stark hervorsticht, der sich mehr oder weniger gewaltvoll insbesondere gegen die eigenen Kinder richtet, während die Kirchengemeinde nur Gutes über den Pfarrer zu sagen weiß und ihn auch noch nach seinem Tod verehrt.
Für Theobald wird es z. B. unerträglich, als sein Sohn Ernest auf eigenen Beinen steht und unabhängig von ihm ist, so dass ihm nicht das Vergnügen bleibt, ihn zu gängeln. Er sieht sich seiner Macht beraubt und kann dies dem Sohn nicht verzeihen, obwohl dieser ihm gegenüber sicherlich mehr zu vergeben hat.

  • „Wie wenig kennen wir doch unsere eigenen Gedanken - unsere Reflexhandlungen, ja, die kennen wir, aber unsere Reflexionen! Der Mensch, fürwahr, ist stolz auf sein Bewusstsein. Wir brüsten uns damit, dass wir uns unterscheiden von Wind und Wellen und Gestein und Pflanzen, die wachsen und nicht wissen, warum, und von Tieren, die hin und her streifen und auf Beute ausgehen, wie wir so schön sagen, ohne Hilfe der Vernunft. Wir wissen so gut, was wir selber tun, und warum wir es tun, nicht wahr? Ich glaube, es liegt etwas Wahrheit in der Auffassung, die man heutzutage vertreten hört, dass es nämlich unsere weniger bewussten Gedanken und unsere weniger bewussten Handlungen sind, die in erster Linie unser Leben und das Leben unserer Nachkommen formen."



Die ganze Geschichte wird durch einen Ich-Erzähler berichtet. Zu Ernest hat dieser ein besonderes Verhältnis, da er sein Patenkind ist und auch beschlossen hat, dessen Geschichte zu erzählen, mit all seinen Kämpfen und Fehlern. Der Junge wird unter der puritanischen Erziehung der Eltern unselbstständig und ängstlich. Diese Feigheit und Angst vor Mensch und Sein setzt sich fort, bis er in Cambridge studiert und zum ersten Mal eine gewisse Befreiung empfindet, da er das Elternhaus hinter sich gelassen hat.
Dort verkehrt er mit mehreren Menschen, durch die er die religiösen Ansichten wechselt oder überhaupt eine andere Sichtweise erfährt. Er trifft auf Darwins Schriften, auf „Essays und Betrachtungen“, einem Werk, in dem von einem liberalen Standpunkt aus sieben verschiedene Autoren Fragen der Kirche und Religion behandeln und das später für ihn noch wichtig wird, weil er sich als Schriftsteller dieser Schreibmethode bedient, alleine in mehreren Stimmen zu sprechen und gegen Kirche und Gesellschaft zu wettern, um Aufmerksamkeit zu erregen und Dinge zu benennen, die andere nicht wagen, anzusprechen. Weiterhin trifft er auf den Traktarianismus, einer Oxforder Bewegung um 1833-1845, die „Traktate für die Zeiten“ von Pusey, Froude, Keble und Newman nutzten, um innerhalb der anglikanischen Kirche katholische und ritualistische Tendenzen zu fördern, auf den Ritualismus und andere Bewegungen. Schon spürt Ernest in sich den Wunsch, nicht nur gegen das eigene Vaterhaus zu rebellieren, sondern eine eigene Pfarre zu kaufen und seine neue Sichtweise unter die Menschen zu bringen, dabei selbst auf alles zu verzichten und sich unter die Armen zu mischen, um ihnen zu helfen und sie zum Glauben zu bekehren. Sein Vater ist ein fetter, geldgieriger, eingesessener Kirchenmann, Ernest verkörpert das Gegenteil.
Er gerät dabei in die Hände eines fragwürdigen Kirchendieners, der ihm einredet, ein Seminar für die „Pathologie der Seele“ ins Leben rufen zu müssen, wofür er Ernest geerbtes Geld benötigt, für ihn investieren will, um dann die Kirche und ihre veralteten Ansichten neu zu reformieren. Ernest, nicht gerade überraschend, ist gutgläubig und leichtsinnig, gibt ihm das Geld und verliert daraufhin seine gesamten Ersparnisse. Mit diesem Verlust, den Erfahrungen, die er inmitten der Armen sammelt, von denen er sich mehr Glauben versprochen hat, mit seiner Aufopferung büßt er letztendlich seinen Glauben ein.

Als er ganz naiv ahnungslos ein junges Mädchen in ihrem Zimmer aufsucht, wird er verhaftet, da man ihm unterstellt, die Dienste einer Prostituierten in Anspruch genommen zu haben. Er wird zu sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. Sein Vater lässt ihn darauf für tot erklären und ganz und gar im Stich. Durch diese Umstände in seinem Leben lernt er, neu zu beginnen und geht gestärkt daraus hervor.



  • „Dort, sagte er sich, war ich durch Riegel eingeschlossen, die ich sehen und greifen konnte; hier wird mir der Weg durch andere versperrt, die nicht weniger real sind – Armut und Weltfremdheit. Es ging nicht an, die materiellen Riegel aus Eisen aufzubrechen und aus dem Gefängnis zu entfliehen, aber da ich nun frei bin, muss ich versuchen, die anderen Riegel zu sprengen.“



Seine Tante dagegen vermacht ihm ein ansehnliches Erbe, das der Ich-Erzähler allerdings für ihn verwalten soll, bis Ernest das achtundzwanzigste Lebensjahr erreicht. Sie sieht bei ihrem Tod voraus, dass er mehrmals scheitern und alles verlieren würde, bis er gefestigt aus allem hervorgehen sollte, und genauso ist es auch gekommen.

  • „… und er wunderte sich über das Glück, das alles so viel besser für ihn eingerichtet hatte, als er selbst dazu imstande gewesen wäre.“



Nach der Gefängnisstrafe beginnt Ernest wieder ganz unten in der Gosse, trifft ein ehemaliges Hausmädchen wieder, dem er mit etwas Geld und seiner Uhr ausgeholfen hatte, als seine Eltern sie aufgrund einer Schwangerschaft aus dem Haus warfen. Diese heiratet er auch prompt und bekommt mit ihr zwei Kinder.
Gemeinsam eröffnen sie eine Schneiderwerkstatt und ein Geschäft für getragene Kleidung, aus dem Ernest einigen Gewinn erzielt, bis seine Frau ihr anderes Gesicht zeigt und herauskommt, dass sie der Trunksucht verfallen ist. Sie belügt und bestiehlt Ernest, der immer verbitterter wird und sie zu hassen beginnt, bis er sie schließlich verlässt, weil er erfährt, dass sie bereits verheiratet und ihre Ehe rechtsungültig ist.
Wieder frei widmet er sich der Schriftstellerei und verfasst gut durchdachte Essays und Angriffe auf die verschiedenen Kirchen und ihre Machteinflüsse. Er erbt das gesamte Geld, das sich durch Anlage um einiges vermehrt hat und kann endlich frei atmen.

Das alles ist so wunderbar und auch spannend erzählt, dass der Leser an diesem Buch seine Freude hat, obwohl es doch seine ganz eigene Zeit in sich trägt – erschienen: 1903. Entwicklungen, wie die von Ernest, der Verlust des Glaubens, das Lösen von den Eltern und die Wiederbegegnung mit ihnen, als er reich und gutsituiert ist, die Selbstverständlichkeit, sein Geld sofort ausgeben zu dürfen und so zu tun, als wäre nichts gewesen, die verschiedenen Einflüsse auf die damalige Gesellschaft und das allgemeine Denken, all diese Begebenheiten atmen in diesem Buch und wirken keinesfalls verstaubt oder veraltet. Butler versteht es dabei, gleichzeitig zu erzählen und zu philosophieren, ohne dass diese Bereiche einander stören oder sich der eine in den anderen drängt.



  • „Unser ganzes Leben lang, an jedem Tag und zu jeder Stunde, befinden wir uns im Prozess der Anpassung unseres teils veränderten, teils unveränderten Ichs an unsere teils veränderte, teils unveränderte Umgebung. Das ganze Leben ist in der Tat weiter nichts als ein Anpassungsprozess. Wenn wie dabei ein wenig versagen, sind wir dumm; wenn wir offenkundig versagen, sind wir irre; wenn wir ihn zeitweilig unterbrechen, schlafen wir; und wenn wir ihn gänzlich aufgeben, sterben wir.“



Die Geschichte, die verschiedenen Generationen, der eigentliche Protagonist Ernest, der sein Leben nach und nach meistern muss, der an seinen Erfahrungen reift, bilden eine Gesamtidylle großartiger Kämpfe, Zweifel, einen tiefsinnigen Inhalt an Aufstieg und Fall, bis letztendlich doch noch alles gut geht.


Cantabis vaccus!





© Annelie Jagenholz



(Alle Zitate sind der Ausgabe - Samuel Butler "Der Weg allen Fleisches", dtv klassik - entnommen.)