Ken Wilber - Wege zum Selbst

© Annelie Jagenholz



Wilbers „Wege zum Selbst“ ist im Endeffekt (sieht man von der Begrenzung „Wort“ ab) purer Zen. Er führt dem Leser vor Augen, dass er sich selbst auf mehreren Ebenen begrenzt, dass der Mensch immer Grenzen schafft, die eigentlich nicht in diesem Sinne existieren. Er trennt alles in Einheiten und Zuschreibungen, trennt in Umwelt und Organismus, Körper und Geist, das Ich in Schatten und Persona.
Diese Grenzen können sich nicht auflösen oder einfach vernichtet werden, weil sie Bedingungen sind. Grenzen sind immer Berührungen. Von einem Ding gibt es immer sein Gegenteil, von einem Gefühl sein Gegengefühl. Zieht man eine konvexe Linie ist sie von der anderen Seite konkav. Die Grenze erscheint uns real, dabei sind sie lediglich die Notwendigkeiten aller Bedingungen.

Mit diesen uns real erscheinenden Grenzen, die wir als Trennungen empfinden, beginnen wir nun unsere Verdrängungen und Selbsttäuschungen. Aus dem zentaurischen Körper wollen wir nur noch Ich sein, das vom organischen Körper getrennt ist (weil wir wissen, das dieser zerfällt, erschaffen wir uns ein Ich, das über den Dingen stehen könnte, dabei ist es immer noch Täuschung). Wir nutzen den Körper, wollen aber nicht mehr er sein. So wirken wir, wie der Reiter auf seinem Pferd. Tatsächlich sind wir jedoch zentaurischer Körper. Der Zentaur ist als Geist mit seinem Körper verschmolzen, warum er eine Einheit samt seiner Gegensätze ist. (Auch in Eros, Kosmos, Logos prägte Wilber diesen Begriff.)
Genauso geht es uns mit dem Ich. Wir, als der Sehende, existieren eigentlich nicht, wenn wir versuchen wollen, uns als Sehender zu sehen. Wir finden nur das, was wir sehen - das Gesehene. Ich bin mein Erlebtes. Dieses Ich ist immer unsere bewusste Erfahrung, ohne zu sein. Wir empfinden unsere Eindrücke als getrennt von uns, dabei sind wir im Moment genau dieser Eindruck und nichts anderes.
Trotzdem empfinden wir uns selbst als Ich und trennen es dabei auch noch in Persona und Schatten, wollen dabei einerseits bestimmte Dinge an uns wahrhaben (hervorheben), verschieben (verdrängen) aber die Gegensätze davon ins Negative, z. B. nicht für uns existierende Neigungen und ähnliches. Auch damit schaffen wir Leiden.

Wir begreifen nicht, dass alles miteinander verbunden ist, alles ist, dass wir auch Körper, auch Umwelt sind, dass wir nicht unseren Nächsten lieben sollen, sondern unser Selbst im Nächsten und in allem, weil wir aus dem All-Einen bestehen, was gleichzeitig bedeutet, dass es weder Entstehung noch Vergehen gibt. Alles ist, und wird auch immer sein. Sobald wir dieses "Es" erfassen wollen und können, ist es schon wieder ein „Muster“ davon, lediglich eine Welle des Ganzen, nicht das Wasser.
Was aber tatsächlich vergeht, sind nur unsere Täuschungen, unsere Körper, unsere Identitäten (Individualitäten). Da wir diese Muster aber ernst nehmen, aus ihnen unseren eigenen Kosmos kreieren, und selbst erschaffen und gleichzeitig annehmen, dass wir auch etlichen äußeren Bedingungen unterliegen, leiden wir.
Wir tragen unser Leiden wie eine Last, weil wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen. Und wir sträuben uns so sehr dagegen, diese Last abzulegen, dass wir sogar in verschiedensten Situationen beginnen, diese zu verteidigen. Wir denken, wenn wir auf uns selbst Druck ausüben, wäre es ein anderer Mensch, der uns zu einer Handlung zwingt. Wir glauben, dass wir einsam sind, während wir selbst die Menschen meiden. Wir glauben uns bedroht, während wir selbst verachten. usw. Diese Dinge liegen manchmal so verborgen, dass wir sie nicht wahrnehmen, eben weil wir an diese Trennungen glauben, an ein Innen und Außen, Subjekt und Objekt.

Was uns ebenso eingrenzt, sind Zukunft und Vergangenheit. Die Gegenwart ist der einzige zeitlose Moment, doch sobald wir versuchen, ihn zu erfassen, begeben wir uns wieder in die Zeit. Genauso ist die Angst vor dem Tod nur die Hoffnung auf eine mögliche Zukunft. Gegen diesen hofft "das Ich" sich selbst zu erschaffen und zu bewahren, als ein Körper seiner Erinnerungen und Wünsche. Alles, was wir annehmen, was uns ausmacht, ist unsere Erinnerung, dabei ändert sich der Zustand des Jetzt immer wieder. Wir setzen uns aus vergangenen Erlebnissen und spekulativen Möglichkeiten zusammen, während darunter immer nur etwas anderes liegt. Wir sind weder unsere Erinnerungen noch unsere Gefühle noch unsere Gedanken noch unsere...
Das Selbst ist die Illusion, die gegen die Illusion des Todes gelenkt wird, während der Tod nur das Ende dieses einen Selbst ist, samt Körper, Seele und Geist. Darunter liegt die All-Einheit aller Dinge, die nicht entsteht oder vergeht, die immer ist und nach der der Mensch beständig strebt, ohne zu bemerken, dass er damit zum Widerstand seiner selbst gerät. Er begibt sich auf die Suche nach Erleuchtung, Wahrheit, sich selbst, während all das längst vorhanden ist und nur erkannt sein kann, wenn man aufhört zu suchen.
Dies ist auch der Moment der puren Gegenwart, die gleich der All-Einheit ist.
Der zeitlose Augenblick von allem in allem.



Darum gilt es nicht, nach Erleuchtung oder Erlösung zu streben, das wäre, „als würde man versuchen, im Wasser die Nässe entdecken zu wollen“, sondern die Widerstände aufzulösen, um zu sein, was man ist. Das So-Sein, das als All-Einheit in jedem Sein bedingt ist, das „göttliche Leuchten“. Bewegung, gleichgültig welcher Art und Form, ist immer Widerstand. „Wir suchen nicht wirklich nach der Antwort – wir fliehen vor ihr.“ Auch Meditation oder Zazen ist nur Übung, nicht um Buddha zu werden, sondern um sich wie Buddha zu verhalten, der wir schon sind.
Suzuki Roshi dazu:

 

Wenn unsere Übung nur ein Mittel ist, um Erleuchtung zu erlangen, gibt es tatsächlich keine Möglichkeit, sie zu erlangen. Erleuchtung ist nicht irgendein gutes Gefühl oder ein besonderer Geisteszustand. Der Geisteszustand, der herrscht, wenn man (im Zazen) sitzt, ist selbst Erleuchtung. In dieser Haltung ist es nicht nötig, vom richtigen Geisteszustand zu reden. Man hat ihn schon.



und:

Die von Buddha bis in unsere Zeit weitergebende Erkenntnis lautet, wenn man mit Zazen beginnt, ist Erleuchtung da, ohne jede Vorbereitung. Ob Sie Zazen praktizieren oder nicht, Sie haben eine Buddha-Natur. Weil Sie sie haben, ist Erleuchtung in Ihren Übungen. Wenn wir von Anfang an eine Buddha-Natur haben, ist der Grund, warum wir Zazen praktizieren, dass wir uns wie Buddha verhalten müssen. Unser Verfahren besteht nicht darin, dass wir sitzen, um etwas zu erwerben, es soll unsere wahre Natur ausdrücken. Das ist unsere Übung.


Besser kann man es wohl kaum formulieren.

Zusammengefasst heißt das: der Mensch muss zunächst seine Begrenzungen erfassen (wofür verschiedene Wege und Therapien möglich sind, die jeweilig verschiedene Ebenen (Persona – Schatten, Ich und Körper, Gesamtorganismus und Umwelt) in unterschiedlicher Form in ihren Verdrängungen aufdecken), um diese nicht aufzulösen oder zu zerstören, sondern anzunehmen, so dass sie sich dabei als gleichberechtigte Bedingungen aufheben, um dann zum Zeugen seiner selbst zu werden,– ich habe Gedanken, ich bin nicht meine Gedanken. Diese gehen und vergehen, wie alle Täuschungen Wandel und Bewegung sind. Ist das begriffen, löst der Mensch sich natürlich nicht einfach auf oder verschmilzt mit der All-Einheit (er ist sie ja schon), sondern wir nehmen diese Dinge einfach nicht mehr so ernst und wichtig. Wir lassen sie geschehen. Ist auch das durchschaut und begriffen, gelangt man zu der Erkenntnis:


  • Wenn man sich selber fühlt, fühlt man sonst nichts.


Das ist das Sein ohne Leid. Das immer vorhandene, nie vergehende Gewahr-Sein. Die Gegenwart. Die All-Einheit.