Kunst und Nietzsche



„Ästhetik wird […] als ‚Physiologie der Kunst’ dem physiologischen Diskurs subsumiert, und der Künstler wird ein pathologischer Held.“ (Nünning 2004, S. 497) 

 



Im Vergleich mit Nietzsches „tiefsinniger Wahnvorstellung“ kann man nicht von einer notwendigen Pathologie des Künstlers sprechen, denn sein Beispiel ist u. a. auch Sokrates, der sich gegen die bestehenden Kunstgesetze aufgelehnt, sie, besser gesagt, abgelehnt hat und trotzdem durch sein Wesen genau das Wesen der Kunst verkörperte. Hier ist durch den Wandel von der Tragödie in die Komödie als eine entartete Tragödie - alles musste verständlich für das Publikum gemacht werden, alles war oberflächlich und hauptsächlich ohne tiefere Erkenntnis (der Künstler enthält sich jeder Verantwortung) - auch nachvollziehbar, warum Sokrates und dann auch seine Schüler diese Kunst erst einmal verwarfen.

So hieß es auch, Sokrates hätte im Gefängnis musiziert, damit die Kunst widersprüchlich betrachtet. Jedoch fehlte ihm, und das fasst Nietzsche in „Die Geburt der Tragödie“ gut zusammen, das richtige Verständnis dafür.
So wie das Apollinische auf das Dionysische blickt, in einem völligen Unverständnis, vergleichbar (jetzt natürlich nur für mich) mit Wilbers rationalem und zentaurischem Bewusstsein, wobei ersteres nie das zweite einsehen kann, da es sich um eine „andere Welt“, ein höheres Holon handelt, die Entwicklung noch nicht in diese höheren Räume vorgedrungen ist, so fehlte es Sokrates an diesem Verständnis, in die wirklichen Kunstdinge einzutauchen, wobei der dionysische Rausch inbegriffen ist.
Sokrates nun versuchte aus dem rein rationalen, philosophischen Verstand zu urteilen, ein Außenstehender, der lediglich betrachtet (wie es den meisten Betrachtern ergeht). Was er erblickt, ist dann auch noch die zu seiner Zeit vorherrschende Oberflächlichkeit, gegen die er sich wehrt. (Verständlich dann auch die (intellektuelle) Ablehnung, die sich gegen jedes Massendenken und die Volksbelustigungen empört, wie wir es auch heute über die Medien oder den Small Talk tun.)

Plato dagegen, der seine Dichtung für Sokrates zerriss, suchte weiterhin eine Lösung, sich künstlerisch ausdrücken zu dürfen. Er fand den Ausweg, indem er sich die Idee zunutzte machte, auch als ein Vorreiter des Romans (man könnte fast sagen, des nun wieder modernen Romans), während Sokrates mit seiner Selbstsicherheit (fast unbewusst) eine neue Ära einleitete, ein bewusstes Wenden gegen das Herkömmliche, gegen den Staat, gegen die Bedingungen, was er aber nicht als den gleichen Akt begriff, den auch die Kunst ging. Für ihn war Wissenschaft gegen Kunst gerichtet, Philosophie gegen Theater… usw.
Durch diese Beispiele geht es Nietzsche um das Verdeutlichen des Wesens „Künstlers“, sein Vordringen zum "Urquell", der nur im Loslassen, im dionysischen Rausch des Schöpfenden, der sich hier vollkommen und eben seinem Wesen nach fallenlässt, zu finden ist. Solange der Künstler ausschließlich geordnet schafft, sich seiner Träume und Überlegungen bedient, so Nietzsche, ist das Vordringen bis zum Wahrhaften nicht möglich. Solange also der Kopf sich einschaltet, wird über den Verstand hinaus kaum etwas Wahres entstehen, die wahre Kunst, da diese eine subjektive bleibt. Der Künstler aber, der dionysisch erschafft, dringt - über sich selbst hinaus - in das wahre Wesen der Kunst ein. Pathologisch dann auch nur in dem Sinne, wenn der Zustand krankhaft wird, der Künstler sich in diese andere Welt flüchtet und aus ihr nicht mehr in die andere zurückfindet oder diese krampfhaft immer wieder sucht. Nietzsche betont ja zuvor, dass das eine ohne das andere nicht machbar ist, das Dionysische sich grundsätzlich mit dem Apollinischen abwechseln muss. Das eine wird erst durch das andere sichtbar. Sie müssen einander gegenüberstehen, um das eine durch das andere besser zu beleuchten (was ja bei allen Gegensätzen grundsätzlich so ist). Der Künstler wird also immer von beiden Richtungen hin und hergerissen sein. Das Dionysische aber ist der Weg zur Kunst.

Dies nun wieder auf das sokratische Denken übersetzt, bedeutet genau das gleiche:
Das Denken (nach Sokrates) muss in die tiefsten Abgründe des Seins reichen, darf das Denken nicht nur erkennen, sondern es sogar korrigieren (Nietzsche). Ein Hinführen also an die Grenzen, an denen die Wissenschaft dann in Kunst umschlägt, was Sokrates nicht erkannt, aber doch gelebt und in dessen Sinne er sogar gestorben ist, da er aus sich selbst heraus der eigenen Stimme gefolgt ist und für diese den Tod fand. Auch wenn ihm die damalige Kunst nicht zugänglich war (was ja aus zuvor genannten Gründen auch verständlich ist), so ist er trotzdem den gleichen Weg gegangen, hat dabei eine ganz eigene erschaffen, die Kunst als Selbstbewusstwerdung, das beharrliche und auf sich selbst vertrauende Lauschen auf die eigene Stimme, und das gegen all die lauten, die beständig von außen eindringen.
Damit auch die Erkenntnis: Jedes Dasein ist begreiflich und gerechtfertigt.
Sokrates ist auf seine Art durch alle Verschleierungen und „Welt der Erscheinungen“ in jene "Urgründe" vorgedrungen, hat sich auf die Suche nach der wahren Erkenntnis gemacht, wie der Künstler nach der wahren Kunst. Dass dieser Weg immer auch Schmerz bedeutet, sowohl die „tragische Erkenntnis“ wie auch den gewissen Ekel vor dem, was in etlichen Schichten darüber liegt, mit sich bringt, das ist für Nietzsche unumgänglich. Die Suche nach dieser Erkenntnis bedarf daher für ihn des Heilmittels der Kunst. Sokrates starb auch, weil er diese Zuflucht nicht hatte, sie in dem, was er suchte, nicht erkannte, sie vielmehr nur im Tod sah.

Ich teile nicht ganz Nietzsches Ansichten, gerade weil er ja seine „wahre Kunst“ - das Dionysische - in der Musik erkennen will (wie Schopenhauer auch), als eine unter allem liegende, zugängliche "Ordnung", die sich in allen möglichen Formen und Melodien ausdrücken lässt, als ein "Abbild des Willens" im Kern für alle gleich nach"fühlbar" bleibt, auch wenn sie nicht nach puren Harmonien und Schönheiten sucht, dieses jedoch der bildenden Kunst abspricht, sie sogar in die Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit drängt. Hier zeigen sich nämlich Nietzsches Grenzen deutlich (die er bei Sokrates erkennen will), da er die Musik und ihre Abgründe fühlt, zur bildenden Kunst jedoch keinen Zugang hat, da er nie gemalt oder in diesem Sinne geschöpft hat.
Jede Kunst trägt, meines Erachtens nach, das Dionysische in sich, völlig egal, wie sie sich nun ausdrücken mag, denn auch im Bild, in der Skulptur gibt es Grund"töne", Muster, etwas, das gleich ist und unterschiedlich sichtbar gemacht wird (zu vergleichen mit dem Marmor eines Michelangelos).
Die Suche ist erst einmal dionysisch, dann im Ordnen der Gedanken und Ideen völlig apollinisch, im Vertiefen, sobald man also die Idee in die Tat umsetzt, erneut dionysisch, schließlich, im Verfeinern, wieder apollinisch. Der Rausch der Malerei selbst ist dionysisch, aus dem man aber immer wieder hinausgeschleudert wird (als ein Rücktritt von der Leinwand und einer Überprüfung und Eigenbeurteilung - der Künstler wird zu seinem eigenen Betrachter (als ein Betrachter, der nichts mit dem fremden Betrachter zu tun hat). Das ist der Prozess jeder Kunst, die Wechselbeziehung von Emotion und Verstand, von Dionysischem und Apollinischem. Für mich ist die Urquelle das Leben selbst, die Wahrheit immer die, die sich ausdrücken lässt, ohne absolute Wahrheit zu sein. Nietzsche hat aber in dem Sinne recht, dass der "Urquell" nicht im principii individuationis des Apollinischen sichtbar wird, sondern nur im "Alles ist Eins" des Dionysischen, wo der "Bann der Individation zersprengt wird" (könnte man es besser ausdrücken?), doch trennen kann man nicht in die Musik - als das Dionysische und die bildende Kunst - als das Apollinische. Nietzsche konnte nur den "Rausch" nicht nachvollziehen, der aller Kunst und jedem Schöpfungsprozess innewohnt. Er erkannte ihn nur in der Musik, da er sich in ihr als einzige verlieren konnte.

 

 
Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, dass sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objektität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allen Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man könnte damit die Welt ebensowohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen...

(Nietzsche - "Die Geburt der Tragödie")

Auch wenn für die antiken Griechen die wahre Kunst die Malerei war, so ist sie trotzdem das Apollinische. Ich glaube aber, dass gerade auch die bildende Kunst ein Wechselspiel aus Apollinisch-Dionysischem ist, keine rein äußerliche Darstellung, sondern auch ein Wesen, das Schwingung in sich trägt, die (von Menschen gleich) erfasst werden kann (z. B. bei Dali's Gemälden sehr schön zu bemerken).

 

Für Nietzsche bedeutet das Apollinische der bildenden Kunst auch Lüge, das Dionysische der Musik das alles miteinander verbundene "Lebendige". Das Apollinische z. B. einer Plastik, einer Statue lügt in ihrer leuchtenden Verherrlichung und Schönheit die Natur weg, da in ihrem Abbild der Schmerz ausgegrenzt, verschwiegen wird, der dem Leben innewohnt (auch das stimmt ja heute nicht mehr in diesem Sinne), verlangt damit, diesen auch im Leben zu unterdrücken, was in der Musik (wenn sie denn dionysisch ist) unmöglich ist. In dieser liegt das Tragische fest verankert, sogar als gleichzeitiger Ausdruck mit der Schönheit der Melodie.

 

 Nietzsches Künstler ist nicht krankhaft, und um es ganz radikal zu sagen: dieser "Wahn" ist das Mittel des sich ängstigenden "Sklaven-Menschen" gegen das lauernde Unheil der Welt, das so gut überspielt und verborgen wird. Dieses Mittel erscheint in einer scheinbar geordneten, das Unheil mit Gesang und Oberflächlichkeit überdeckenden Welt wie eine Wahnvorstellung, weil versucht wird, gegen diese Gefahr des Optimismus als aufbegehrender "Sklave" anzugehen.
Eine Welt, die versucht, Ordnung zu schaffen, mit Hilfe verschiedenster Mittel, auch eben mit Kunst, Philosophie und Wissenschaft, der werden nun ihre eigenen Mittel vorgesetzt, um sie zu widerlegen, bloßzulegen. Es wirkt anmaßend, aus dem so schön bereiteten Dasein der Beruhigungsworte nach dem innersten Wesen der Dinge suchen und diese ergründen zu wollen, nach dem "wahren Empfinden" zu forschen, wo doch so viel Kunst aufgewendet wird, all das zu untergraben. Für Nietzsche liegt darin eine ungeheure Tapferkeit, zu wagen, sich dem untrüglichen Richter Dionysos zu stellen, gegen die Zerstreuungen und Stilvermischungen anzugehen, obwohl doch die Masse sich davor verbeugt.



© Annelie Jagenholz