Teil 4




9.     

 

Was also sind die weißen Nächte genau? Man kann nicht sagen, dass die Nacht
einfach trüb wird oder auf eine einzige als die Weiße reduziert werden kann. Mehrere
Tage lang geht die Sonne ganz einfach nicht richtig unter, was bedeutet, dass man um
23 Uhr oder Mitternacht aus dem Fenster blickt und denkt, es wäre drei Uhr
nachmittags. Das verwirrt natürlich, sowohl im eigenen Zeitgefühl als auch in der
Müdigkeit. Taghell ist die Nacht, der Himmel blau, und der Schlaf lässt auf sich
warten. Erst in den frühen Morgenstunden wird es leicht dunkel.


 

Ich habe überhaupt sehr wenig geschlafen. Wir waren zunächst zu viert in der Wohnung (meine Großmutter besitzt lediglich drei winzige Zimmer), so schliefen zwei in einem Zimmer, ein weiterer auf der Couch im Wohnzimmer und sie eben in ihrem Schlafzimmer, wo nicht selten bis zum frühen Morgen das Licht brennt, weil sie lange zu lesen pflegt. Das Bad und die Toilette sind auf zwei Räume aufgeteilt und unheimlich klein, dass man sich kaum drehen kann. 
Doch die Wohnung samt ihrer Ereignisse unterliegt einem beständigen Wandel, denn die Russen sind feierfreudige Menschen, und wenn die Enkelin schon einmal zu Besuch ist, dann wird die gesamte Verwandtschaft, Bekanntschaft und Nachbarschaft eingeladen. Das bedeutet, die Zimmer werden neu zugeteilt, die Betten neu belegt, denn jene Bekannten und Verwandten kommen von weit her, reisen von Datschen und Vororten an und können nicht am selben Abend zurückfahren. Leicht kann es passieren, dass man einige Nächte lang das Bett teilen muss.
Das kostet schon einiges an Überwindung, gerade, wenn man sich an keinen erinnert, weil man selbst beim letzten Treffen mit der Bekanntschaft gerade einmal zehn Jahre alt war, von jedem unbekannterweise umarmt und geherzt wird, natürlich die obligatorischen Kind-Erwachsensein-Vergleiche über sich ergehen lassen muss. Dann wird gespeist und getrunken, und jeder sitzt am Tisch und referiert reihum einen Trinkspruch, die Leute haben viel zu sagen. Da fließt Dank und Gruß, Bewegtheit und Geschichte, auch so manches Gedicht über die Lippen, man umarmt sich erneut, und die Stimmung ist laut und ausgelassen, während am blauen Himmel gegen Mitternacht blaß der Mond zu sehen ist.
Die Gläser werden immer wieder neu mit jener klaren Flüssigkeit gefüllt, bis jemand den Selbstgebrannten hervorholt und versucht, die Leute zum Trinken zu nötigen, um herauszufinden, wie sein Gesöff wohl wirken mag, wobei es hier ratsam ist, sich schnell auf die Toilette oder auf den Balkon zurückzuziehen, während der Balkon die schlechtere Wahl ist, man dort umzingelt von Gerümpel und alten Säcken steht und irgendwie dann doch nicht richtig entkommt. Ablehnen aber ist unhöflich, genauso wie der totale Suff, es sei denn, sie versinken alle gleichzeitig darin. Dann holt einer die Gitarre hervor und zusammen werden russische Volkslieder in die helle Weite getragen, bis die Wangen von innen glühen, die bevorstehende Nacht der Enge keine Rolle mehr spielt, man Geschichten erzählt, sich mit Salaten, Bilischi, Pelmeni (die werden in vielen Cafés und Restaurants übrigens in kleinem Töpfchen serviert, mit einem Klecks Smetana (saure Sahne, die aber anders schmeckt als die, die wir kennen)), mit Krebsfleisch, roter Beete und Fisch vollstopft, um all das Flüssige irgendwie zu kompensieren, und der Blick allmählich glasig und schielend wird. Doch man kommt, ob man will oder nicht, kaum um diese Sitte herum, da wird immer wieder aufgetischt, wie wenig auch ansonsten da ist, die Leute sind fröhlich und zeigen, wer alles geheiratet, wer alles Kinder bekommen hat, kurz: wer sie sind. Bescheidene und trotz aller Widrigkeiten lebensfrohe Menschen, die man schnell ins Herz schließt und wenn man wieder fährt, lange zu kennen glaubt.

 



10.

Meine Großmutter besitzt wenig Geld, hat lange bis ins Alter gearbeitet und bezieht eine magere Rente, die für nichts ausreicht. So geht es vielen Russen, aber ich habe auch andere erlebt, Architekten, die einige Angestellte, ein schönes Auto und zwei Büros besitzen. Diese können es sich leisten, den Touristen herumzukutschieren und ihn mit Insider-Informationen zu versorgen. Armut aber ist immer sichtbar. Sie zeigt sich im Staub, in den Wänden, in den Gesichtern. In Gewohnheiten und sogar in Zähnen.
Bei meiner Großmutter ist die Bude zerfallen, auf die Stühle wagt man sich kaum zu setzen, die Schränke stehen zur Hälfte offen, da sie sich nach der langen Zeit im Gebrauch nicht mehr schließen lassen, das Geschirr ist bunt zusammengewürfelt und stark zerkratzt. Die Messer sind stumpf, wie lange man sie auch schärft. Der Teppich zerschlissen.
Das Essen im Kühlschrank ist oftmals längst abgelaufen, wird aber (man wage es nicht) sicherlich nicht weggeschmissen. Ein Fremder benötigt hier einen doch eher robusten Magen (oder spüle gegebenenfalls mit Wodka).
Ich bewundere, wie geschickt diese Frau mit all dem zurechtkommt. Sie ist fast 87 Jahre alt und rennt schneller als ich, hat eben mal für acht Personen ein ganzes Essen bereit, kocht aus wenigen, manchmal befremdlichen Zutaten die schmackhaftesten Speisen und spielt Rommé bis tief in die Nacht.
Die Möbel, Betten und Zimmer sind allesamt kleine Ruinen für sich, doch sie besteht darauf, diese zu behalten, da in ihnen all das Andenken anderer Zeiten ruht, Erinnerungen an ihren verstorbenen Sohn und Mann, deren Tod nur eine Woche auseinander liegt. Unter der Couch, die keinerlei Bequemlichkeit bietet, wie auch sonst nichts im Raum, lagern Konserven und Gläser, deren Inhalt leicht obskur erscheint. So würde ich mich nicht wundern, wenn ich unter diesen gläsernen Gefäßen ein eingelegtes Embryo oder Augen entdecken sollte. Wer arm ist, muss sich zu helfen wissen, wie alt die Sachen sind oder um was es sich dabei genau handelt, könnte ich nicht sagen. In der ganzen Wohnung sind solche Gläser verteilt, und wenn etwas nicht mehr schmeckt, wird es als Schüssel auf den Balkon, der sich in der zweiten Etage befindet, für die Katzen und Vögel bereitgestellt, oder für anderes Getier, von dem man sich lieber keine Vorstellung macht. Einer der Bekannten, ein starker Trinker, der mit seiner Freundin angereist kam, die früher mit dem verstorbenen Sohn meiner Großmutter zusammen war, erzählte, er hätte vor dem Eingang eine Ratte gesehen, die so groß wie ein fetter Kater war. (Flüchtig glimmt der Gedanke auf, ob die Ratte vielleicht rosa war.)

 

Der Zusammenhalt dieser Menschen ist groß, auch wenn es immer Schwierigkeiten gibt. Obwohl keine Bindung zwischen der Frau und meiner Großmutter mehr bestehen müsste, kümmert sie sich, so gut sie kann, trotzdem um sie. Was einst war, wird nicht einfach gelöst. Nicht einmal, wenn jemand stirbt. Ihr neuer Lebensgefährte hat seine Macken, die nicht leicht zu verdauen sind. Der Suff zerstört die Menschen, hat sowohl den einen das Leben gekostet, wie dem anderen etwas vom Leben genommen.
Er besitzt eine Einzimmerwohnung in Kirischi, und wenn er nichts zu trinken hat, dann wirft er sie manchmal einfach hinaus. Da reicht es schon, wenn sie nur anfragt, ob man den Fernseher leiser stellen könnte, der von Morgens bis Abends durch das Haus schallt.
Ich mag solche Leute nicht, aber eigentlich geht es mich auch nichts an. Sie wohnen ansonsten auf einem kleinen Grundstück, in einem Bauwagen, den sie um eine Etage aufgestockt haben. Wenn man dort auf das Plumskloh geht, trifft man auf eine schwarze Wand von Fliegen, dass so mancher Gast genötigt ist, sich stattdessen davonzustehlen und sein Geschäft irgendwo in der Wildnis zu erledigen.
Nun hat ausgerechnet der Sohn jener Frau, der nicht von ihm, auch nicht vom Sohn meiner Großmutter, sondern von einem wiederum ganz anderen Mann stammt, eine Frau geschwängert, die wesentlich älter als er selbst ist. Nichts anderes als eine Heirat kommt in Frage. So teilen sie sich jetzt diesen Wohnwagen, der kaum für zwei Leute reicht, zu fünft, bis das Kind da ist, denn die wesentlich ältere Frau hat bereits einen Sohn im Teenageralter.
Die Wohnungsnot ist hier unbeschreiblich. Etliche der neu hochschießenden Gebäudekomplexe stehen leer, da sich kaum jemand die Miete leisten kann. Familien tauschen die kleinen, oftmals schäbigen Mietswohnungen untereinander aus. Wenn eine Tochter in einer anderen Stadt studieren will, dann wird bei Tanten und Onkeln nachgefragt, wo sie unterkommen kann. Viele haben zwei Jobs, um die immense Summe der Miete aufzubringen. Sich auf ein Grundstück oder jene Datschen zurückziehen zu können, ist schon ein Glücksfall.
 
Ich hatte viel Zeit, die Umstände, das Leben meiner Großmutter zu beobachten, Einblick in ihren Alltag zu erhalten. Diese Frau ist ein reines Phänomen, gerade wenn ich dagegen andere, gleichaltrige Frauen betrachte. Sie hat so vieles erlebt, vor zweieinhalb Jahren eben jenen Überfall, wo der Einbrecher sie nicht nur berauben wollte, sondern auch noch hochheben und gegen die Wand werfen musste, als würde eine alte Frau eine unsagbare Gefahr bedeuten.
Ich habe diesen einen Knochen gesehen, der aus ihrer Schulter bis durch das Kleid hindurch deutlich hervorsteht und sich anfühlt, als wäre er ein Fremdkörper. Er ist nach dem Einrenken irgendwann durch eine ungünstige oder zu schnelle Bewegung wieder aus dem Gelenk gesprungen. Kein Geld für Operationen. Kein Geld, um beraubt zu werden. Der Körper, obwohl so zerbrechlich, hält erstaunlich gut zusammen, doch der Schmerz muss unerträglich gewesen sein.
Sie aber kümmert das nicht. Sie grinst und zeigt ihre noch echten Zähne. Einige sind leicht abgebrochen, auch dafür ist kein Geld im Haus, was sie nicht bedrückt. Die Eitelkeiten legt man in Russland schnell ab, wenn es gilt, zu überleben. Manchmal könnte man meinen, sie hätte nur darum so gute Zähne, die so lange halten, weil sie keine Alternative hat.
Mein Großvater war da nicht ganz so gut bestückt. Er kam einmal dazu, als wir als Kinder jenes Spiel spielten, bei dem man auf bestimmte ärztliche Geräte tippen und sie dem richtigen Körperteil zuordnen muss und dann richtig oder falsch liegt. Als er uns sah, ließ er sich in den Sessel fallen, öffnete den Mund, forderte mich, die ich ein Plastikabhörgerät um den Hals trug, um das Spiel realistischer zu machen, auf, ihn zu untersuchen, ihm würde der Zahn wehtun, und nahm dann, ohne dass man es vorhersehen konnte, einfach sein Gebiss heraus. Danach lachte er lange über unseren Schreck.
 
Meine Großmutter ist, durch ihr Leben geprägt, recht knauserig geworden und lässt sich wenig schenken oder kaum helfen. Wenn man eine Wurstsorte (irgendeine russische, recht schmackhafte Salami) kauft, die sich um fünfzig Cent von der Sorte unterscheidet, die sie sich sonst alle drei Monate in gezählten Stücken gönnt, dann wird sie ungemütlich und erklärt, man würde prassen. (Gleichzeitig aber, sobald sie sich daran gewöhnt hat, langt sie dann ordentlich zu, schneidet sich dicke Stücke ab, als ob das Schimpfen lediglich die Tradition erfordert.) Man kann sie auch nicht austricksen, denn sie kennt alle Preise. Das ist in vielen Situationen so, z. B., wenn man überlegt, weil man wenig Zeit hat, ein Taxi zu rufen, statt auf Bus und Bahn zurückzugreifen. Dann schüttelt sie erbost den Kopf und nennt die zahlreichen Busnummern, die alle in die gewünschte Richtung fahren, und man kann es irgendwo verstehen.
Gerade hier, im Vergleich, erkennt man, dass die eigene Anspruchslosigkeit immernoch reich und sättigend ist, und man solche Art an Hunger oder wirklicher Armut überhaupt nicht kennt.
 
Vor einigen Jahren schenkten ihre Verwandte ihr einen neuen Fernseher, vielleicht, ohne groß nachzudenken, denn ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie sie vor diesem unnötigen Gerät steht und das Geld in Essen umrechnet. Dieser Flachbildschirm wirkt regelrecht fehl am Platz, abstrakt und nicht ins Bild passend. Die Tapeten sind graubraun, die roten Teppiche längst von der Wand genommen, der Tisch und Rest spärlich.
Sie guckt natürlich Fernsehen, besonders gerne Sport. Auch die WM wurde trotz der Nichtteilnahme der Russen übertragen, die Spiele sogar wiederholt, so dass man sie nachts noch einmal sehen konnte, was wir auch zu Genüge taten.
Mich wunderte allerdings die Art, wie die Russen Filme gucken. Da wird nicht synchronisiert, auch nicht mit Untertiteln gearbeitet. Man sieht einen Schauspieler und eine Schauspielerin, die sich unterhalten, und eine Stimme übersetzt einfach das von beiden Gesagte, während die echten Stimmen dahinter immernoch leicht verzögert zu hören sind. Ich hätte das kaum mitbekommen, da der Fernseher nur nebenbei lief, wenn nicht auf einmal die Frau in dem Film mit männlicher Stimme gesprochen hätte.
 
Die andere Wand des Wohnzimmers schmückt ein reichhaltiges Regal voller Konvolute von Dostojewskij, Tschechow, Leskow, Tolstoi, Gogol, Bulgakow, Veresaev, aber auch Jack London und Remarque. Diesen liebt sie. Sie liest ihn immer, wenn sie sich traurig fühlt, besonders gerne „Drei Kameraden“, und wenn dann die Tränengewalt aufgrund der tragischen Geschichte hervorbricht, fühlt sie sich wieder besser. Ein Selbstreinigungsprozess.
Sie hat mir Fotografien gezeigt, als sie zwanzig Jahre alt war und studierte. Dort deutete sie auf mehrere Männer, die ihr den Hof gemacht haben. Die Aufopferungsbereitschaft und Sorge meines Großvaters, der sich bei ihrer Freundin ständig erkundigte, wie es ihr ginge, als sie eine Woche krank war, war dann wohl der ausschlaggebende Grund, diesen jungen Mann näher zu betrachten, um ihn dann schließlich zu heiraten, zu lieben und viele Jahrzehnte mit ihm zu leben. Für mich sind diese Erinnerungen berauschend, sowohl die ihrigen, als auch die meinigen, das Kind, das ich einst war, als ich in diesen Räumen verkehrte und dort alles viel größer wirkte.
Ich betrachte ihr Gesicht und finde darin einen Ausdruck, der in Marmor gegossen oder gemalt gehört. Und an der Wand in der Küche hängt immernoch das uralte Radio, das ich bis heute nicht vergessen habe.

 

11.
Diese eine weiße Nacht, auf die alle St. Petersburger ungeduldig warten, die Nacht der purpurnen Segel, gestaltet sich folgendermaßen: Man geht etwa gegen 20 Uhr abends von der Metro Richtung Eremitage. Schnell erkennt man, dass der Vorplatz zum Winterpalast, den man zuvor durch den Triumphbogen erreichte, gesperrt ist, da dort ein Konzert für die Schüler und Studenten stattfindet, wobei von der Bühne sowohl gesungen als auch ein Hoch auf das Wohl und den Erfolg der Schulabgänger ausgerufen wird. So muss man, ist man nicht Schüler oder Student, ganz außen herum und gelangt, über eine Straße hinweg, in einen Park, der an die Newa angrenzt, auf der sich die einzig offene Brücke befindet, von der aus man das Schiff mit den roten Segeln sehen kann. Pünktlichkeit macht sich hierbei bezahlt, gleichzeitig sollte man an so einem Tag darauf verzichten, sich zuvor mit allerlei anderen Besichtigungen zu vergnügen und herumzuschlagen, was ich natürlich nicht beherzigt habe.
Als ich nun durch den Park in der Nähe der Newa schlendere, entsteht eine eigenartige Unruhe um mich herum, die Menschen wechseln die Richtung und drängen schneller als zuvor in Richtung Fluss. Ich blicke mich um und sehe auf einmal eine lange, Seite an Seite, langsam voranschreitende Reihe von Polizisten. Ich muss zweimal hinsehen, um diesen Anblick zu erfassen und ernst zu nehmen. Doch er ist wahrlich real, Schulter an Schulter schreiten sie voran und treiben die Menschen in voller Präsenz aus dem Park, fordern dabei zur Eile auf. In der Hand schwingen sie ihren Schlagstock.
Die Miliz ist hier, wie gesagt, überall SEHR präsent, sie stehen nicht zu zweit oder dritt, sondern gleich rudelweise herum, doch dieser Akt in Uniform verwirrt trotzdem. Man denkt sich ja auch kaum etwas Abstrakteres, wenn man sich auf diese weiße Nacht einstellt. Gerade noch ein paar Pelmeni geschlürft, fühle ich mich zwischen den Polizisten wie von Soldaten umringt, die gerade frisch vom Schiff oder aus irgendeinem Bus klettern, auf Besuch oder Urlaub sein könnten. Bilder schießen mir durch den Kopf, von Zügen, aus denen Hände zum Abschied winken und ein Heil auf das Land ausgerufen wird. Zum Glück herrscht hier im Moment Frieden.
Der Vergleich mit deutschen oder griechischen Polizisten liegt bei solchen Erlebnissen natürlich irgendwie nahe und hält doch nicht stand. Trotzdem habe ich auch anderes erlebt. Als ich einmal nach langer Überwindung an einen dieser soldatischen Polizisten herantrat, um mich nach einem Taxistand zu erkundigen, da lächelte mich diese Uniform mit einem wahren, menschlichen Gesicht an und zeigte mir nicht nur den Weg, sondern begleitete mich sogar bis vor ein Taxi, vor dem er mir zuraunte, es wäre sogar günstiger als die anderen. Bei solchen Erlebnissen wird man dann leicht versöhnlich, doch im Moment herrscht ein anderer Zustand.
Wie Vieh nun durch diesen Park getrieben, sehe ich auf einmal, wie leer die riesigen, sechsspurigen Straßen geworden sind, kein einziges Auto fährt mehr. Alles wird nach uns abgesperrt. Wo ich zuvor noch überlegte, ob wir nicht viel zu früh dran wären, sehe ich jetzt, dass wir, wären wir auch nur etwas später gekommen, nicht mehr durchgelassen worden wären. Die Polizisten reagieren da auch ziemlich strikt, stellt man ihnen eine Frage, antworten sie auf alle Fragen in gleichem Standartsatz. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Gehen Sie weiter.“ Leicht zu übersetzen in: Verschwindet gefälligst. Wir tun, was man uns sagt.
Alles wird zugleich abgesperrt, um den Platz zur Eremitage, die gesamte Frontseite der Newa, die ansonsten dicht befahrenen Straßen, all das wird ohne Vorwarnung zum Verbot erklärt, denn dort, hinter den Bändern, werden in wenigen Stunden zig Tausende an Schülern und Studenten laufen und feiern. Noch habe ich keine Vorstellung davon, überhaupt kann ich mir nicht begreiflich machen, was hier geschehen, wie sich solch eine Nacht gestalten wird.
Ich freue mich auf dieses Unbekannte, darauf, bald all das zu erleben, das Konzert und die Feierlichkeiten, ich wusste ja auch noch nicht, dass hier andere Sitten herrschen, der Kapitalismus sein hässliches Gesicht zeigen wird. Man verwandelt sich zum Gefangenen dieser Stadt, dieser Nacht, die den kleinen Menschen gnadenlos verschlingt.
Es gibt eine Brücke in der Nähe der Kunstkammer, das überhaupt erste Museum in St. Petersburg, in der auch die Kuriositätensammlung von Peter dem Großen zu finden ist, der seinem Volk mit missgebildeten und anderen ausgestopften Gestalten die Wissenschaft näher bringen wollte, während der Eintritt frei war. Eines der kuriosesten Ausstellungsstücke neben den Abnormalitäten und ausgestopften Tieren sind die in Alkohol eingelegten Köpfe der Liebhaber von u. a. Katharina der Ersten, die ich im Katharinenpalast auf einer riesigen Leinwand in ihrer ganzen Hässlichkeit bewundern konnte. Überhaupt sah man da das Herrscherblut, die stämmige Bereitschaft zum Regieren und Unterdrücken.
Von der Brücke aus hat man den besten Blick auf das Schiff und Feuerwerk. Sie liegt direkt mit Ausblick auf die Peter und Paul-Festung, auf die roten Säulen, auf denen später oben die riesigen Flammen gezündet werden. Rechts hat man die beste Sicht auf die Eremitage. Die Fahnen, die Russland repräsentieren, flackern und schlagen laut im Wind. Das Wetter ist durchwachsen, irgendwie haben wir Glück. Es regnet erst, als wir wieder abreisen, dazwischen gibt es Temperaturen von 12 bis 26 Grad, manchmal grell blauer Himmel mit Wolken, dann wieder (häufiger) die dicht verhangene Schleierbewölkung. Man kann nicht ohne Jacke aus dem Haus, diese aber gleichzeitig auch nicht die ganze Zeit tragen. Gerade in den Bussen und in der Metro herrscht eine stickige, fast unerträgliche Luft.



(Brücke, mit der Kunstkammer im Hintergrund, auf der bald die Massen auf das Segelschiff warten.)

 

Warum nun ein Frühkommen so sinnvoll ist, erklärt mir ein Einheimischer, ist das auf diese Weise Sichern bester Plätze, damit man überhaupt etwas sieht. Man ist hier durchaus nicht alleine (weil ich kurz an so manchen Deutschen denken muss, der sich mit dem Handtuch um vier Uhr morgens seine Strandliege sichert), die Russen handhaben das grundsätzlich und jedes Jahr in dieser Form. Sie kehren nach Feierabend kurz in ihre Häuser zurück, machen sich frisch und ziehen am frühen Abend los, samt Kindermeute und Bekanntschaft, bringen ihre Getränke und Chips direkt in einer Plastiktüte mit.
Zusätzlich, in dieser einen Nacht, die sich im Russischen Alyje Parusa - Purpurne Segel - nennt, in der die Schüler ihren Abschluss feiern und aus allen Teilen der Stadt zusammenkommen, um am Newski Prospekt und seiner Umgebung, auf dem Platz der Eremitage und am Ufer der Newa für ihre Mühen und Strapazen all der Jahre des Lernens belohnt zu werden, fährt Punkt 23 Uhr ein Segelschiff los, um den längsten Tag anzukündigen und damit die Sommerwende. Dafür strömt ganz Petersburg an die Newa, in der Metro konnte man schon tagelang vorher die Werbung für die purpurnen Segel begutachten, die neben der Ankündigung zur Sommerwende auch Symbol für den Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt sind, der Glück verheißend sein soll. Die Feierlichkeiten werden vom Staat bezahlt und organisiert, und diese besagte Nacht gehört genauso zu St. Petersburg wie die Eremitage. 

Alexander Grin schrieb 1923 den Roman „Alyje Parusa“, ein sehr beliebtes Jugendbuch, das die Grundgeschichte erzählt. Ein Mädchen namens Assol wächst unter Fischern an einer rauen Meeresküste auf. Eines Tages verkündet ihr ein Märchenerzähler, dass bald ein Schiff mit Purpursegeln am Horizont erscheinen werde und damit den Grundstein für eine große Liebe und ein besseres Leben legen wird. Seitdem wartet sie auf dieses Schiff, ohne auf den Spott der anderen zu hören. Gleichzeitig träumt ein Junge namens Grey von der Seefahrt. Er wird Kapitän auf einem eigenen Schiff und erfährt eines Tages die Geschichte des Mädchens Assol. So bricht er auf, um das Märchen wahr werden zu lassen.

 

Ich kann es noch kaum glauben, denn die Brücke ist sporadisch mit Leuten besät, natürlich ist das Geländer zum Fluss hin schon dicht besiedelt, aber im Vergleich zur Größe der Brücke wirkt alles noch leichtlebig und unvorstellbar, dass sich bald darauf so viele Menschen tummeln werden. Wir ergattern einen guten Platz, stehen also an diesem Geländer und… beginnen zu warten. Es ist gerade einmal einundzwanzig Uhr, das Schiff soll in zwei Stunden losfahren. Ich fluche leise vor mich hin, bin die ganzen Tage so viel gelaufen, dass mir die Beine unerträglich schmerzen, ich kaum noch stehen kann. Ich male mir aus, wie lange zwei Stunden sind und bemerke, wie sich meine Augen weiten, wie irgendetwas darin sich langsam bis in meinen Hinterkopf zurückzieht und einen leichten Schwindel bewirkt. Zwei Stunden gehen so schnell vorbei, hat man ein Buch dabei oder irgendeine Beschäftigung. Mir aber hier klarzumachen, dass ich nun zwei Stunden auf die Newa starren werde, dazu schon jetzt tierisch erschöpft bin, keine Möglichkeit habe, mich irgendwo hinzusetzen, sondern gezwungen bin, den Platz zu halten, das Geländer mit der mir geratenen guten Sicht beständig zu besetzen und stets im Auge zu behalten, erscheint mir leicht unheimlich.


Was soll’s, denke ich mir schließlich. Stehen und die Stadt betrachten. Mal einfach so, ohne besonderen Anlass oder irgendein Ziel. Die Schiffe bewundern. Auch darin kann Muße liegen. Die Gedanken fliegen mir durch den Kopf, von all dem, was schon war und all dem, was noch kommt, wobei letzteres keine klaren Konturen annimmt. Doch was sich auch immer anbahnen mag, ich fühle mich bereit.
An den Kiosken wird jetzt kein Bier mehr verkauft, wohl um übermäßige Unruhe zu verhindern. Es gibt einige Eiswagen, bei denen man alkoholfreie Getränke und eben Eis kaufen kann. Die Menschen bringen sich ihre Getränke selbst mit. Man sieht bereits einige mit riesigen Flaschen, in denen Wodka, Rum mit Cola und anderes gemischt ist, die nur halb gefüllt sind. Die Jugendlichen sitzen auf den Balustraden und lachen, lassen die Beine baumeln, die Familien und anderen Menschen suchen sich ihren Platz auf der Brücke.
Ich blicke weiter auf das sprudelnde Wasser der Newa, bestaune einige schnell dahin rasende Boote, ab und an kommt auch ein Schiff mit einer ganzen Meute feiernder Schüler vorbei, die uns zuwinken, laut jubeln und grölen und ihre Gläser schwingen. Man erklärt mir, dass die Eltern lange Geld sparen, um ihren Kindern diese Feier auf einem Schiff zu ermöglichen. Die meisten können sich das natürlich nicht leisten. Selbst die Schiffe unterscheiden sich, so sieht man die Schülermeute sowohl auf Ausflugsschiffen wie auch auf zerfallenem und rostigem Tuckerkahn mit eigenem Kapitän.
Auch kommen richtig elegante Yachten vorbei, darauf dann lediglich zwei oder drei Menschen, manchmal noch umzingelt von ihrem Personal. Sie suchen sich vom Wasser aus einen guten Platz, müssen sich beeilen, denn nachher wird auch der Fluss, wie schon zuvor die Straße, gesperrt.
Die Peter Paul-Festung glänzt mit ihren goldenen Kuppeln und Türmchen, davor ist eine lange Schiene mitten ins Wasser gesetzt, auf der gerade einige Flammen nacheinander hochschießen. Wusch. Wusch. Wusch, tönen sie bis an mein Ohr. Die Raketen und Zündungen des bevorstehenden Feuerwerks werden noch einmal überprüft, nichts darf schief gehen. Ganz im Hintergrund erkenne ich die blaue Kuppel der Moschee, die in der Nähe des Leninbalkons liegt und die ich später bewundern werde.

         

 

Dann fällt mein Blick auf die Eremitage in ihrer ganzen, abendlichen Schönheit.

 

Ich überlege kurz, wie schön es wäre, wenn ich irgendwo auf ihrem Dach stände und von dort die Aussicht genießen könnte. Ob durch diese edlen Räume jemand schlendert, wenn niemand mehr da ist, wenn die Tore verschlossen sind? Was für ein Genuss muss es sein, in diesem Prachtpalast von Raum zu Raum zu spazieren und inmitten der geballten Kunst zu schwelgen, während kein anderer Schritt stört, danach auf das Dach zu steigen und zwischen Neptun und anderen Statuen das Schiff mit den roten Segeln zu betrachten. Ich würd’s mir gefallen lassen, denke ich belustigt.

Tatsächlich sehe ich zwischen zwei Statuen wirklich eine Silhouette, die sich aber so selten bewegt, dass ich nicht genau weiß, ob die Bewegung nun meiner Einbildung oder der Wirklichkeit entspringt.
Neben uns, in einer kleinen Ausbuchtung der Brücke, bauen verschiedene Presseleute ihre Kameras und Fotoapparate auf. Nicht weit entfernt entdecke ich eine
n riesigen Kran, und als mein Blick seinem aufgerichteten Hals folgt, erkenne ich hoch oben eine Kamera und einen Menschen, der diese Kamera bedient. Solch einer muss schwindelfrei sein.   

    

 

Ein weiteres Spektakel auf der Newa ist das Hochgehen aller Brücken, die sich nach und nach öffnen, um die großen Schiffe durchzulassen. Als Kind habe ich diesem Ereignis einmal beigewohnt. Ich spekuliere, welches der auf dem Fluss liegenden Schiffe wohl das besagte Segelschiff sein würde, entdecke zwei in Frage kommende Schiffe, deren Masten sich dreifach nebeneinander erstrecken. Später erfahre ich, dass es sich weder um das eine noch um das andere handelt. Eines davon ist sogar ein fest im Hafen liegendes, wunderschönes Schiff, das ein Restaurant ist und nicht weit von der Aurora liegt. Eine der Brücken aber, das weiß ich, wird sich öffnen, und darunter hervor wird das Schiff seinen Weg nehmen, seine Kreise ziehen und dem Jubel der Menschen begegnen.

 

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Teil 5