"Der Idiot"


Teil 2


 

Wirklich russisch (also nicht europäisiert) waren für Dostojewski (hier Jewgenij Pawlowitschs Ansichten) nur Lomonósoff, Puschkin und Gogol:



Da bisher nur diesen dreien von allen russischen Schriftstellern gelungen ist, etwas tatsächlich Eigenes, etwas Neues, zu sagen, etwas, das sie nirgendwo entlehnt haben, so sind diese drei eben dadurch sogleich auch national geworden. Wer von uns Russen etwas Eigenes, etwas unanfechtbar Eigenes, niemandem Nachgeahmtes, nirgendwoher Entlehntes sagt, schreibt oder tut, der wird unfehlbar sogleich national, und wenn er auch nur schlechtes Russisch spräche. Das ist für mich ein Axiom.



 

Dostojewskis Kampf für das echt Russische und sein Ausspruch gegen den Liberalismus nehmen sich wie folgt aus:



Dieser Hass gegen Russland wurde vor nicht allzu langer Zeit von manchen unserer Liberalen fast für die wahre Liebe zum Vaterlande gehalten, und sie taten noch groß damit, dass sie besser sähen, als die anderen, worin diese Liebe bestehen müsse; (…)


 


Dostojewski blickte besorgt auf die Jugend, der nichts mehr "heilig" erschien, die in ihren Aussagen mehr Wert auf brillante Formulierungen legten, als auf den Inhalt, die sich respektlos den Älteren gegenüber benahmen, "gesellschaftlich taktlose Wahrheiten" ins Gesicht sagten und damit ihren Mut beweisen wollten. (Schön wurde diese Respektlosigkeit auch von Turgenjew in "Vater und Söhne" dargestellt.) Hier entstand also eine Rebellion gegen die "Verlogenheit der Konvention", ein "wilder Tatendrang um jeden Preis".
Diese Jugend hat Dostojewski in "Pjotr Werchowenskij aus den "Dämonen" vervollkommnend, ... die Jugend, der jede Perspektive fehlt, die es hauptsächlich darauf anlegt, das "Alte" abzuschütteln und mit aller Gewalt abzulehnen.

Myschkin stellt die Veränderung im Bewusstsein der Menschen auch im Verbrechen gut dar, als es um die skrupellosen jugendlichen Mörder geht:



Es gibt sogar noch viel entsetzlichere Mörder als jenen jungen Mann, Verbrecher, die an die zehn Menschen ermordet haben und nichts bereuen. Aber es ist mir bei der Gelegenheit doch eines aufgefallen: dass selbst der verstockteste Mörder, der nicht die geringste Reue empfindet, dennoch weiß, dass er ein Verbrecher ist, ich meine, vor seinem Gewissen weiß, dass er schlecht gehandelt hat, und wenn er dabei vielleicht keine Reue empfindet. Uns so ist ein jeder von ihnen. Dieser aber (…) wollen sich nicht für Verbrecher halten und meinen, sie hätten ein Recht dazu und … sie hätten sogar gut gehandelt (…) Und gerade darin besteht, meiner Ansicht nach, der furchtbare Unterschied.



 

Auch befasst sich Dostojewski im "Idioten" mit dem Thema der "Waage", dass in jedem Menschen Gut und Böse miteinander ringen.
Der „Apokalypse-Kenner“ Lebedeff greift den Gedanken von Jewgenij Pawlowtisch auf:



Jawohl! Das Gesetz der Selbstzerstörung und das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark.



 Und besonders schön wird es dann zu Fürst Myschkins Geburtstag im hitzigen Gespräch:


Aber ein Menschenfreund mit wackligen sittlichen Grundlagen ist ein Menschenfresser…


Und weiter:



… ganz abgesehen von seiner ruhmsüchtigen Eitelkeit: denn verletzen Sie die Eitelkeit irgendeines dieser unzähligen Freunde der Menschheit, und er wird sofort bereit sein, aus kleinlicher Rachsucht die Welt an allen vier Enden anzuzünden (…)



 

Was mich an diesen philosophischen Aussagen hier doch stutzig macht, ist, warum Dostojewski sie gerade dem kleinlichen, gierigen und nur zu gerne betrügenden Lebedeff in den Mund legt. Vielleicht möchte er hier das Paradox solch einer Predigt aufzeigen, die zwar schön ausgedrückt ist, sich aber nicht durch die Tat auszeichnet, so dass Lebedeff genau davon spricht, was er selbst in seiner Ethik nicht zustande bringt, denn er ist grundsätzlich auf seinen eigenen Vorteil aus und von recht jämmerlicher Gestalt.
Er rechtfertigt sich im Grunde damit, dass er sich selbst als erbärmlich und schlecht bezeichnet, womit er sich ebenso das Recht eingesteht, auch weiterhin so zu handeln, weil er es ja von sich selbst weiß und auch vor anderen Menschen zugibt. Eine sehr scheinheilige Auffassung, wie ich finde.

Amüsant ist daraufhin wieder, wie Lebedeff sich in seinen eigenen Geschichten verfängt, wo doch vorher der Ausspruch des Anwalts als so empörend empfunden wurde, der sagte:
... es wäre ganz natürlich, dass sein Mandant aufgrund seiner Armut sechs Menschen ermordet hätte
, ... und der nun von einem Menschenfresser berichtet, der über sechzig Menschen gegessen haben soll, und weil ihm bei dieser hohen Zahl nicht geglaubt wird, behauptet:

 


Dass er sie nicht alle auf einmal gegessen hat, ist doch klar, sondern so im Laufe von vielleicht fünfzehn bis zwanzig Jahren, in einem solchen Zeitraum aber ist das doch vollkommen verständlich und natürlich.

 



Aber noch witziger war dann sein Einlenken:

 


… aber ich will trotzdem nicht bestreiten, dass die Anzahl der von einem Einzigen verspeisten Menschen sich als eine enorm hohe Zahl herausstellte, so dass man sogar schon von Unmäßigkeit im Genuss reden darf!

 



Wenn ich mir vorstelle, dass man das Wort Genuss auch auf das Verzerren von Menschen anwendet…


Wunderbar dann wieder in Bezug auf die geistige und moderne Entwicklung:



Reichtum gibt es jetzt zwar mehr, innere Kraft aber weniger; der verbindende Gedanke fehlt; alles ist aufgeweicht, alles ist ausgelaugt und alle Menschen sind wie ausgekocht.



 

Ippolits flammende Rede, dass es sich nicht mehr lohne zu leben, wenn es sowieso in wenigen Wochen zu Ende geht, dass er die Bücher wegschmeißt, weil es sich für die wenige Zeit nicht mehr rentiert, sich Wissen anzueignen, und sein Entschluss schließlich dem Ganzen selbst ein Ende bereiten zu wollen, führt in viele Überlegungen.
Was nimmt man mit? Was ist wichtig? Besteht das Recht zum selbst gewählten Tode nicht gerade dann, wenn es sowieso bald vorbei ist, oder sollte man vielmehr die wenige Zeit, wenn es sowieso zu Ende geht, noch auskosten?
Dostojewski greift hier mit den Worten Ippolits die gleiche Überlegung wieder auf, wie wir sie am Anfang über die Henkersmahlzeit des Verurteilten zu lesen bekamen; dass die letzten Augenblicke des Lebens mit etwas zu versüßen den bald Sterbenden keinesfalls glücklicher machen, sondern ihn vielmehr an sein bevorstehendes Schicksal sehr unangenehm erinnern und an das, was er alles zurücklassen muss, wo doch die Christen so sehr nach der Schönheit der letzten Stunden streben oder Myschkin hier für Ippolit die Backsteinwand durch blühende Bäume ersetzen möchte. Da ist es nicht verwunderlich, dass Ippolit aufschreit:
 



Wie soll ich inmitten all dieser Schönheit, wenn ich in jeder Minute, in jeder Sekunde weiß und jetzt erst recht zu wissen genötigt bin, dass sogar diese winzige Fliege hier (...) an diesem Festmahl und Chorgesang teilnimmt, ihren Platz kennt, ihn liebt und glücklich ist, wogegen ich allein ein Ausgestoßener bin und nur aus Kleinmut das bis jetzt nicht habe begreifen können?




Besonders schön ist seine Wut über die Menschen, die aus den langen Jahren, die noch vor ihnen liegen, nichts machen, die Wut, dass ein Mensch, der noch sechzig Jahre vor sich hat, einfach vor Hunger sterben kann.



Und jeder weist auf seine schäbige Kleidung hin, weist seine schwieligen Hände vor, ärgert sich und schreit: „Wir arbeiten wie die Jochochsen, wir schuften und mühen uns ab, und wir sind hungrig wie die Hunde und arm! Andere arbeiten nicht und mühen sich nicht ab und sind reich!“ (…) Immer die gleiche Litanei und die Tränen in den Augen dazu! Oh, ich habe nicht das geringste Mitleid mit diesen Dummköpfen (…) Wenn er nur lebt, folgt daraus schon, dass all das in seiner Macht steht! Wer ist denn schuld daran, dass er das nicht begreift?



 

An einem Beispiel den Wert des Lebens gemessen:



Oh, seien Sie versichert, dass Kolumbus nicht damals glücklich war, als er Amerika entdeckt hatte, sondern damals, als er es erst entdecken wollte; seien Sie versichert, dass er den höchsten Augenblick seines Glücksgefühl vielleicht genau drei Tage vor der Entdeckung der Neuen Welt erlebte (…) Hierbei kommt es nicht auf die Neue Welt an oder auf gleich was sonst! Und Kolumbus starb ja auch, fast ohne sei gesehen zu haben, und genau genommen, ohne zu wissen, was er entdeckt hatte.
Hierbei kommt es auf da Leben an, einig und allein auf das Leben, - auf seine Enthüllung, die ununterbrochene und ewigliche, und keineswegs auf das jeweils Enthüllte.


 


Es ist das Gleiche, wie das angestrebte Ziel. Solange man es im Kopf hat, sich danach sehnt, ist man von einem Glücksgefühl erfüllt, wenn man es aber erreicht hat, dauert der Moment der Freude nur kurz, man ist vielmehr erschöpft und froh, es endlich geschafft zu haben und macht sich schließlich wieder auf die nächste Suche.


Ippolit keucht in seiner Krankheit und weiß, dass er sich nicht klar ausdrückt, dass der Mensch in seiner Eitelkeit und seinem mitleidigen Blick auf ihn nicht erfasst, dass er selbst hier am Tod des Jungen den Wert des eigenen Lebens hinaufsetzen kann.

 


… aber trotzdem möchte ich hinzufügen, dass bei jedem genialen und neuen Menschengedanken oder einfach sogar bei jedem ernsten Gedanken, der in einem Menschenkopf entsteht, immer ein Etwas zurückbliebt, das sich auf keine Weise anderen Menschen miteilen lässt…



 

Trotzdem finde ich, hat er den Kern sehr gut getroffen. Der Mensch jammert und jammert, und doch liegt es nur an ihm, was er aus seinem Leben macht. Das Jammern ist einfacher, und er glaubt auch nur an das Recht der Jammerei, weil er gesund und gelangweilt ist, weil der Tod oder der Schmerz nicht in aller Gewalt über seinem Kopf hängt. Denn solche Dinge lassen den Menschen irgendwo immer neu erwachen, weil er sich darauf besinnt, was er verliert.

Und dann, ein schöner Aufruf für die „Gute Tat“:


 


Hierbei ist das ganze Leben mit seinen zahllosen uns verborgenen Verzweigungen mit im Spiel. Der beste, scharfsinnigste Schachspieler kann nur einige kleine Züge voraussehen; (…) Wie viele Schachzüge des Lebens aber sind uns denn bekannt? Und wie viel ist unbekannt! Indem Sie Ihr Samenkorn oder Ihr Almosen ausstreuen, Ihre Tat vollbringen, geben Sie, in welcher Form es auch sei, einen Teil Ihrer Persönlichkeit hin und nehmen einen Teil der anderen Persönlichkeit in sich auf; in dieser Wechselbeziehung stehen Sie beide zueinander.

(…) Sie werden Ihre Aufgabe schließlich unbedingt als eine Art Wissenschaft betrachten; sie werden ihr ganze Leben absorbieren und kann zugleich Ihr ganzes Leen ausfüllen. Andererseits können alle Ihre Gedanken, alle die Samenkörner, die Sie ausgestreut haben und die von Ihnen selbst vielleicht schon vergessen worden sind, sich verkörpern und heranwachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie einem anderen weitergeben.





Später dann spricht Dostojewski auch selbst noch einmal das Bild von Holbein an, über die schonungslose Darstellung. Der tote Mensch. Die sichtbare Qual an seinem toten Körper. Und noch drastischer:



… wie konnten sie dann noch glauben, angesichts einer solchen Leiche, dass dieser Märtyrer auferstehen werde? Wie sie überwinden, wenn selbst derjenige ihnen jetzt unterlegen ist, der zu seinen Lebenszeiten auch die Natur überwand, dem sie sich unterwarf, wenn er ausrief: „Talitha kumi!“ (…) Beim Anblick dieses Bildes erschient einem die Natur als ein unbekanntes, riesiges, unerbittliches und stummes Tier, oder richtiger, weit richtiger gesagt, wenn es auch seltsam klingen mag: als irgend eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses große und unschätzbare Wesen erfasst, zermalmt und in sich hinein geschluckt hat, taub und gefühllos, - dieses Wesen, das allein soviel wert war wie die ganze Natur samt allen ihren Gesetzen, wie die ganze Erde, die vielleicht nur zu dem Zweck erschaffen ward, damit dieses Wesen auf ihr erschiene! Durch dieses Bild wird gleichsam gerade diese Vorstellung von einer dunklen, unverschämten und sinnlos-ewigen Macht, der alles unterworfen ist, zum Ausdruck gebracht und teilt sich einem unwillkürlich mit.




Das fasst natürlich noch ein Stück weit besser ins Wort, warum sich durch den Anblick des Bildes der Glaube verliert.



Wir erniedrigen die Vorsehung gar zu sehr, wenn wir ihr unsere Begriffe zuschreiben aus Ärger darüber, dass wir sie nicht verstehen können.





Es ist wohl mit allen Dingen so, die der Mensch nicht fassen kann, dass er sich die Dinge mit seiner Ahnung erklärt und diese auch an andere Menschen vermittelt, obwohl er vielleicht gar keine Vorstellung hat, was eigentlich möglich ist.
Die christliche Religion wirbt mit dem Paradies und der Hölle, als hätte sie einen Begriff davon, wie sich die Moleküle nach dem Tode anordnen, in was sie sich wandeln. Aber es ist ihr eigentlich auch egal, was tatsächlich im Danach geschieht; der Zweck dieser Illusionen von Gut und Böse dient nur der Kontrolle des Menschen, der sich dadurch seinen Ängsten und Sünden bewusst wird. Ob er dadurch auch immer "richtig" handelt (wenn er darüber hinaus vergisst, sich auf sich selbst zu besinnen), bleibt fraglich.

Der Wunsch von Ippolit, sich umzubringen, weil es "vielleicht die einzige Tat ist, die" er "nach eigenem Willen anzufangen und zu beenden noch Zeit" hat, schafft wieder Parallelen zu den "Dämonen", wo Kirilloff den Selbstmord auch als Verpflichtung sieht, sich zu erschießen, "weil der wichtigste, erschöpfendste Punkt" seines "Eigenwillens ist", sich selbst zu töten. Die Eigenmacht ist für Kirilloff der höchste Gipfel an Beweis, um zu zeigen, dass der Mensch überhaupt eigenen Willen besitzt und nicht von Gott geleitet wird. Für ihn besteht hier die "größte Macht", während es bei Ippolit heißt:

 


Es ist keine große Macht, demnach auch kein großer Protest!

 



Hier unterscheiden sich die Selbstmörder, wenn man mal davon absieht, dass der eine ein Junge ist, der an der Schwindsucht stirbt, und der andere seinen Selbstmord als Beweis der Menschheit hinterlassen will. Trotzdem liegt für Dostojewski im Selbstmord das Bekenntnis zum eigenen Willen.
Ippolit wäre durchaus imstande, die letzten zwei, drei Wochen noch durchzustehen und dann sein Schicksal anzunehmen, aber er rebelliert hier bewusst, weil ihm die Natur ein ungewolltes Zeitpensum aufzwingt.
Vielleicht kann man darin eine Form des Trostes sehen.

 

Im vierten Buch spürt man regelrecht das Vibrieren in der Luft, diese Anspannung, wie kurz vor einer Katastrophe.

Zum Katholizismus sagt Myschkin:


 

Der Atheismus predigt nur die Negation, der Katholizismus aber geht darüber hinaus: er verkündet einen entstellten Christus, einen von ihm selbst verleumdeten und entweihten, einen entgegengesetzten Christus. Er predigt den Antichrist …
(…) Der römische Katholizismus glaubt, dass die Kirche ohne staatliche Weltmacht hier auf Erden nicht werde bestehen könne, und schreit: Non possumus!
Meiner Ansicht nach ist der römische Katholizismus nicht einmal ein Glaube, sondern nichts weiter als die Fortsetzung des weströmischen Reichsgedankens, und diesem Gedanken hat sich alles in ihm unterzuordnen, vom Glauben angefangen. Der Papst hat sich der Erde, des irdischen Throns bemächtigt und hat das Schwert ergriffen; seitdem geht alles so weiter, nur dass sie zum Schwert noch Lüge, Hinterlist, Betrug, Fanatismus, Aberglauben und Verbrechen hinzugefügt haben, mit den heiligsten, ehrlichsten, naivsten und glühendsten Gefühlen des Volkes gespielt haben, und alles, alles haben sie gegen Geld eingetauscht, gegen banale weltliche Macht.





Und vom Katholizismus zum Sozialismus:



Auch der Sozialismus ist doch eine Ausgeburt des Katholizismus und des katholischen Wesens! Auch er ist, ganz wie sein Bruder, der Atheismus, aus der Verzweiflung hervorgegangen (…), als Ersatz für die verlorengegangene moralische Macht der Religion, um den geistigen Durst der lechzenden Menschheit zu stillen und sie zu retten…
(…) Also wieder nur eine Freiheit durch Gewalt, wieder eine Vereinigung durch Schwert und Blut! „Du sollst nicht glauben an Gott, du sollst kein Eigentum besitzen, Du sollst keine eigene Persönlichkeit sein, fraternité ou la mort! – koste es auch zwei Millionen Köpfe!“




Myschkin lehnt die Gefräßigkeit der Systeme, das Anwenden von Gewalt und das offene Predigen der Gier ab, das Geldscheffeln und die schamlose Demonstration der Macht, die nichts mehr mit Demut zu tun hat, er sieht in ihnen nur ein Füllen an Leere und ein Überdecken der Desillusionierung. Der verlorene Mensch wird gegriffen und aufgrund seines Glaubens ausgebeutet. All das hat nichts mehr mit dem Christus zu tun, der sich für die Menschheit opferte.



Damals waren die Menschen gewissermaßen Menschen mit nur einer Idee, jetzt aber sind sie viel nervöser, vielseitiger, sensitiver, sind Menschen mit zwei, drei Ideen zu gleicher Zeit ... Der jetzige Mensch ist ... geistig breiter ...




... und darum irrt er herum, hat seinen inneren Einklang verloren und lässt sich verleiten, wenn nur eine Führung vorhanden ist.

Was den Fürsten auch immer lächerlich erscheinen lässt, fasst die alte Bjelokonskaja gut ins Wort:

 


Ich weiß, du bist ein guter Mensch, machst dich aber immer lächerlich! Schenkt man dir drei Kopeken, so dankst du schon, als hätte man dir das Leben gerettet.





Myschkins Rede an die Aristokratie, weil er hoffnungsvoll diesen Stand retten möchte, der droht durch dieses falsche und aufgesetzte Verhalten unterzugehen („Seien wir die Vordersten, dann werden wir auch die Anführer sein. Lassen Sie uns Diener werden, um die Lenkenden sein zu dürfen.“) umfasst tiefe und aufrichtige Worte:


 

 

Denn das ist doch so, wir sind nun einmal lächerlich, sind leichtsinnig, haben schlechte Angewohnheiten, langweilen uns, verstehen nicht zu schauen, verstehen nicht zu begreifen…
(…) Und Sie, zum Beispiel, Sie fühlen sich doch dadurch nicht gekränkt, dass ich Ihnen ins Gesicht sage, Sie seien lächerlich? Dann aber, wie sollten Sie demnach nicht lebendiges Material sein? Wissen Sie, es will mir scheinen, dass es mitunter sogar ganz gut ist, lächerlich zu sein, ja, dass es sogar besser ist, dann kann man einander leichter verzeihen, leichter auch sich mit einander versöhnen; denn man kann doch nicht alles gleich auf einmal verstehen, kann doch nicht mit der Vollkommenheit anfangen!





Um die Vollkommenheit zu erreichen, muss man zuerst vieles nicht verstehen. Verstehen wir aber gar zu schnell, dann verstehen wir es womöglich gar nicht richtig.

Und erneut im östlichen Denken begriffen:




… denn es ist doch am schwersten, denen zu verzeihen, die Sie mit nichts verletzt haben, und zwar gerade deshalb, weil es nicht geschehen ist und folglich Ihre Beschwerde über sie unbegründet ist…




Hier höre ich auch ein Deuten auf den Vorwurf, das Vorurteil heraus, dass das „Verzeihen“ darauf gegründet ist, dass man seinen drohenden Finger herunternimmt und sich selbst zugesteht, dass man den anderen Menschen nicht zu beurteilen hat, und wenn er etwas tut, was ja den Vorwurf, das Vorurteil auslöst, ihm gerade darum verzeihen muss, dass er es tut. Bei dieser Behauptung wird das Schlechtdenken über andere Menschen, der so oft geschürte Hass, dieses Ausbreiten an Misanthropie zur Farce.

Und was schimmert noch hindurch? Myschkin ist tatsächlich ein Revolutionär, kann auch aufstampfen und seine Werte verteidigen. Leider fließen seine wie im Fieber ausartenden Reden auf das Gewissen der Menschen, sein Hinweis darauf, dass er den Anfang gemacht hat (sein Verhalten, seine Wahl des guten Glaubens), seine Verteidigung der Christen gegen die kalten Ersatzreligionen letztendlich nur zu einer unverstandenen Gestalt zusammen, die durch das Stehen am Rande verspottet wird, jedoch in den sie umgebenden Menschen sofort Zutrauen erweckt (teilweise, weil sie wissen, dass der Fürst ihnen nie etwas Böses will, teilweise auch, weil sie sich überlegen fühlen und ihn als Gesprächspartner, Beichtvater und (modern ausgedrückt) Therapeuten benötigen). Die Menschen verstehen seine Empörung nicht (im Sinne von: die Dinge verändern sich nun einmal, auch wenn sie schlechter werden, müssen wir sie hinnehmen!), und doch sehen sie, dass der Weg, den er geht, gut ist, aber sie können ihm nicht folgen, ohne sich selbst vor der Masse lächerlich zu machen. Trotzdem erkennen sie die Richtigkeit des Weges, wollen ihn aber nicht beschreiten, drücken sich vielmehr wie ein Teil einer riesigen Knetmasse zurück in den Block der Allgemeinheit. Und an dieser Mauer muss der Fürst dann auch scheitern, weil er diese in so zerbrechlicher Gestalt nicht durchdringen kann.

Und auch wieder in der Verbindung zu den „Dämonen“, wo Kirilloff sagte:


Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein. sofort, im selben Augenblick.



… schreit hier Myschkin:



… und ist es denn überhaupt möglich unglücklich zu sein? Oh, was bedeutet mein Kummer, was hat mein Leid auf sich, wenn ich imstande bin, glücklich zu sein?




Und er gibt auch Hinweise:


 


Wissen Sie, ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorübergehen kann und nicht beglückt sein, dass man ihn sieht? Wie mit einem Menschen sprechen und nicht glücklich sein, dass man ihn liebt! (…) Wie viele Dinge begegnen einem auf Schritt und Tritt, die so schön sind, dass selbst ein Mensch, der sich schon ganz verloren hat, sie als schön empfindet? Sehen Sie ein Kind an, schauen Sie Gottes Morgenrot, betrachten Sie einen Grashalm, wie er wächst, schauen Sie in die Augen, die Sie ansehen und Sie lieben…




Es scheint ganz so, dass der Anfall, der den geistigen Klarblick hervorruft, die völlige Ekstase, das Alles-Sehen zuvor immer den Aufschrei weckt, ein Bedürfnis im Fürsten, sich mitzuteilen, aufzurufen, auf das Unrecht zu deuten. Die Menschen um ihn herum haben es dann natürlich einfach, weil sie sich auf seine Krankheit berufen können, die doch scheinbar so seinen Geist verwirrt. Sie erschrecken und ringen die Hände, statt die Worte Myschkins in sich dringen zu lassen und zu verarbeiten. Und gerade das macht dieses Scheitern Myschkins so traurig und sinnlos, so dass es kein Wunder ist, dass weiterhin die Fehler begangen werden, vor denen der Fürst gewarnt hat (natürlich besonders in Bezug auf die trotzige Aglaja, die später den Anti-Myschkin heiratet und sich zur Fanatikerin entwickelt), und dass dieser nach dem letzten schrecklichen Erlebnis wieder völlig in seinen vorherigen Zustand zurückkehrt.

Dieses Buch hat mich in seiner Spannung und diesem so wundervoll geschaffenen Wesen so mitgerissen, dass ich es äußerst ungern aus der Hand lege. Besonders das letzte Buch verlangt dem Leser eine so gierige Konzentration ab, dass man immer hastiger durch die Geschehnisse blättert, von einer schrecklichen Vorahnung, Anspannung erfüllt, um endlich "erlöst" zu werden, und bleibt dann schließlich auch völlig aufgewühlt zurück. Das Kapitel "Schluss" berichtet noch die letzten fast schon trockenen Nachwirkungen, doch sie ändern nicht, dass der Geist abschweift und immer wieder zu dem vorherigen Kapitelschluss zurückkehren möchte. Endlich begreift man richtig, wie einfach es ist, Mitgefühl für alle Gestalten dieses Buches zu empfinden.


Arme Nastassia, armer Rogoshin, armer, wunderschöner Fürst Myschkin.





(c) Annelie Jagenholz

(Alle Zitate sind der Gesamtausgabe von Zweitausendeins entnommen.)