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oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Schmerz als Motiv

Samstag, 11. März 2017 - in Das Ich - Reflexionen

Das Problematische bei der Präsentation von Kunst ist der Umstand, dass viele Betrachter versuchen, den Künstler über das, was er abbildet, zu definieren (wenn es ganz schief läuft, sogar charakterlich in eine Schublade zu stecken). Das ist besonders dann der Fall, wenn er wenig von sich preisgibt.

Sind die Bilder düster und zeigen schmerzhafte Emotionen, wird dem Künstler diese Emotion natürlich sowieso unterstellt, wobei ein Kern Wahrheit nicht abgestritten werden kann, denn er beschäftigt sich immerhin mit dem Thema. (Nichts aber ist mir unangenehmer als Menschen, die glauben, in Bildern lesen zu können. Statt den Spiegel in der eigenen Reflexion wahrzunehmen, den der subjektive Blick immer bewirkt, halten sie sich für neugierig scharfsinnige Psychologen, selbst dann, wenn sie nichts über den Menschen oder Künstler wissen.) Es steckt nun einmal mehr dahinter als einfach eine rein morbide Ader oder der Hang zur Depression, wenn das Motiv düstere Abgründe offenbart, wobei auch ich mich häufig dabei ertappe, über das, was ich abbilde, länger zu rätseln. Weniger erschreckt mich natürlich das Motiv (da ich den Hintergrund und Zusammenhang kenne) als die Vorstellung, wie das Bild mich seelisch entkleidet, wie es allgemein seine Wirkung entfaltet.

 

Es ist gleich schwierig, ein düsteres und tiefes oder schönes und bereicherndes Motiv zu gestalten. Die Provokation durch Schock ist ein Bestandteil der Kunst und Fotografie, ein Abbild zu kreieren, das andere glücklich machen könnte, ist eine wahre Herausforderung, die neben dem Unerreichbaren der Perfektion auch daran scheitern kann, dass das Schöne häufig zu Kitsch gerät oder nur das allzu glatte Nichts darstellt, das keine Wirkung entfaltet. Ebenso kann ein düsteres Bild einfach nur provozieren, statt eine Frage zu stellen oder der Ausdruck einer Suche zu sein. Und dann nützt es nicht viel ...

 

Schmerz, Leid, Tod, Blut – die dunklen Begleiter des Lebens –, in ihnen liegt etwas sehr Abstoßendes und gleichzeitig eine ewig menschliche Faszination. Nicht jeder möchte so etwas sehen, aber entziehen kann man sich genauso wenig. Wie ich am offenen Grab den Anblick fürchtete, schaffte ich es dennoch nicht, keinen Blick hineinzuwerfen, und schon die Umrisse des zerfallenen Sargs waren morbide und erschütterten mich, da sich natürlich automatisch eine Welt an Deutungen und Ängsten vor meinem inneren Blick auftat, Bild auf Bild die Albträume zurechtrückte, die mit solchen Bedingungen im eigenen Schädel kreisen, begleitet von der Erleichterung, zum Glück doch nichts gesehen zu haben oder nicht das Gefürchtete – den zerfallenen Leichnam, Knochen, den Schädel mit dem grinsenden Abdruck, Fleischreste ... (des einst lebendigen und geliebten Menschen).

 

Damit gerechnet habe ich durchaus und gleichzeitig auch nicht, so wie man sich sagt, es wird schon alles gut oder es betrifft mich nicht. Und ich wüsste nicht zu sagen, wie mich der Anblick tatsächlich schockiert hätte, wäre da nicht genügend Erde gewesen, um das Wesentliche zu verdecken, wobei ein halb ausgehobenes Grab schon an sich Grauen weckt und verteilte Wirbel und Knochen auf anderen Gräbern ebenso, die man höchstens noch umdenken, geistig zu Tierkadavern oder Hühnerknochen gestalten kann. Doch es sind Reste von Menschen aus einer nur einen Meter tiefen, umgegrabenen Erde. Da fragt man sich wirklich, ob es nicht besser ist, einfach zu Asche zu werden.

 

Ein wichtiges Detail solcher „Versuchungen des Hinsehens“ liegt in der Unvorstellbarkeit, in der Hoffnung, nichts zu sehen, die dann durch die Bestätigung erst einmal Erleichterung verschafft. Dass hinterher der Kopf ständig mit dem Thema beschäftigt ist oder sogar die Anwesenheit von Geistern in Betracht zieht, nur weil einem auf einmal ein kalter Luftzug um die Nase weht, ist eine andere Sache. Aber man kann sich diesem Drang eindeutig kaum entziehen. Ich würde zwar nicht so weit gehen, mir, wie Bataille, das Foto einer lebendigen Häutung auf den Schreibtisch zu stellen, überhaupt Fotografien mit deutlich erkennbaren Greuelmotiven anzusehen, doch in der Kunst bin ich mutiger und blicke auf Radierungen von Goya oder Goltzius, auf die tizianische Darstellung der Schindung Marsyas oder die Enthauptung Holofernes durch Judith bei Caravaggio. Und konfrontiert mit Unfall oder Tod ist es immer schwierig, wegzusehen, selbst wenn man lieber wegsehen möchte.

 

Susan Sontag hat es in ihrem Buch „Das Leiden anderer betrachten“ vielleicht gut erfasst. Sie schreibt:

„Dieser Blick auf den Schmerz, auf das Leiden anderer ist im religiösen Denken verwurzelt, das den Schmerz mit dem Opfer und das Opfer mit Erhebung verbindet …“

 

Auch wenn die moderne Welt alles Religiöse und Spirituelle aus dem Denken und Fühlen verdrängen möchte, bleibt eine Art Urinstinkt zurück, mit dem wir auch in moderner Zeit durch viele Bedingungen immer noch konfrontiert sind, und sei es durch Literatur oder Kunst. Das qualvolle Leiden von Christus am Kreuz ist ein begleitendes Element und Bild durch alle Zeiten hindurch. Tatsächliche Erschütterung hat es bei mir zwar nur als Kind ausgelöst, wenn die Darstellung besonders detailliert erfolgte, ich demnach auch die verzerrten Gesichtszüge und einzeln in Hand und Füße geschlagenen Nägel erkennen konnte, aber wie tief es wirklich gewirkt hat, kann ich kaum nachvollziehen.

 

Der Hindu wächst mit dem öffentlichen Verbrennen von Leichen auf. Der Moslem hüllt seine Toten in einfache Tücher und verscharrt sie im Boden. Der Christ hält eine Zeremonie ab, um den Toten zu verabschieden, legt ihn in einen Sarg und versenkt ihn in der Erde. Alle haben ihre Rituale, und der Tod ist nicht immer nur mit Schrecken verbunden (man denke z. B. an die Kapuzinergruft von Palermo). Er bleibt ein natürlicher Bestandteil des Lebens, wie auch der Abschied oder das Stehen am Grab die Verbindung zwischen Leben und Tod festigt. Am Toten lässt sich im Sarg erkennen, dass er endgültig weg ist. Schwieriger wird die Vorstellung beim Blick auf die Urne. Die Konfrontation mit einem Leichnam von Angesicht zu Angesicht ist deutlich intensiver.

Der Zurückgebliebene versucht neben Abschied und Trauer über den Toten hinaus etwas über sich selbst zu erfahren, den Tod genauer zu erfassen, zu begreifen, zu deuten … Er findet zwar wenige Antworten, setzt sich jedoch mit dem Thema auseinander, ob er will oder nicht. Inmitten des Kummers kann nichts verdrängt werden. Er packt einen, umhüllt einen, erneuert einen, und durch den Tod wird das Leben neu hinterfragt. Der Prozess der Entwicklung erfolgt in kleinen Schritten. Und nichts anderes tut der Künstler. Er bedient sich dieser Suche durch schöpferische Darstellung. Er verarbeitet, stellt Fragen, hält fest ... Sichtbarer wird er dadurch nicht. Höchstens durchsichtiger.

 

(Mehr Zeichnungen an dieser Stelle: Jagenholz - Neue Zeichnungen.)