B L O G

oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Marionette oder Mensch

Montag, 8. April 2013 - in Literatur

„Doch wahre Reisende sind nur solche, die fortgehen

Um fortzugehen, die Herzen leicht, ähnlich den Ballons;

Die sich von ihrem Geschick nie unterscheiden

und immer sagen „Gehen wir!“, ohne zu wissen, warum.“

 

(Baudelaire)

 

 

Eines der schönsten Gedankenspiele Heinrich von Kleists ist sein Essay "Über das Marionettentheater". Dieses Gespräch entfacht beim Leser sofort eine ganze Gedankenflut, die ihn einmal mehr auf sich selbst zurückwirft, ist zeitunabhängig und ewig aktuell.

Kleist hatte eine Nomadenseele, war ständig auf der Suche nach sich selbst und hielt es an keinem Ort lange aus. Er schlug seine Wurzeln nicht in Häuser und Stühle, war nicht bereit, sich in ein Muster pressen, sich Stellungen aufzwingen zu lassen oder einem Kleist-Abbild zu entsprechen, das verfremdet alleine Erwartungen erfüllte. Das machte ihn mitunter zu einer unsteten Seele, der es nicht gelang, zu sich selbst zu finden. Die Kant-Krise, die ihn überfiel, dass die Wahrheit der Dinge nie zutage treten würde, so sehr er auch danach forschte, dass alles, was er erblickte, verfälscht war, spiegelt die Sehnsucht Kleists wider, eine innere Sicherheit finden zu wollen, die ihm letztendlich nur im Tod möglich schien, wo er sich gegen Ende seines Lebens so innerlich wund fühlte, dass ihm, wenn er die Nase zum Fenster hinaushielt, das Tageslicht schmerzte. Dennoch zeugen seine Schriften und Werke von jener Suche.

 

 

"Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist."

 

 (Heinrich von Kleist "Über das Marionettentheater")


In seinem Essay führt Kleist dem Leser eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen vor Augen, die darüber diskutieren, ob eine mechanisch gelenkte Marionette mehr Grazie durch ihre Berechnung und Führung entwickeln könnte als ein lebendiger Tänzer. Der Tänzer bewundert den Schwerpunkt der Marionette an ihren Fäden, träumt davon, eine perfekte Figur zu erschaffen, die jenen göttlichen Funken wiedergeben könnte, der im Tanz erahnt, von Menschen und Tänzern jedoch selten erreicht wird, denn der Mensch ist nicht perfekt und ringt mit seinen geistigen und körperlichen Gebrechen, seinen Selbstzweifeln, seinem Unvermögen, perfekt zu sein.

 

Das Gespräch führt bis hin zu Beinprothesen, die als Wunder der Mechanik nicht nur den Schritt wieder möglich machen, sondern gar im Kreis ihrer Möglichkeiten einen ganz eigenen Tanz, doch was dem Menschen tatsächlich fehlt, ist etwas ganz anderes, die Einfachheit seiner selbst, nicht um seines Körpers, nicht um seines Tanzes willen, sondern um eine natürliche und schöne Seele bereichert, wie auch der Mensch dankbar zu sein hat, für das, was er ist und kann.

 

Lukian schrieb:

"Wahrhaftig, guter Charon, du würdest keine Worte finden, das Lächerliche
der eitlen Bestrebungen zu schildern, in welchem die Menschen sich abmühen."

 

Darauf möchte auch Kleist hinaus. Sein Ich-Erzähler berichtet dem Tänzer die Geschichte eines jungen Narziss‘, der sich in ganz natürlicher Bewegung einen Splitter aus dem Fuß holt, sich in dieser Haltung im Spiegel erblickt und dabei selbst gefällt. Als ihm dann geraten wird, die Haltung zu wiederholen, da er sie nie wieder in gleicher Eleganz erreichen würde, versucht er sich daran und muss einsehen, dass es der Wahrheit entspricht, die natürliche Haltung durch den Versuch ins unnatürliche kippt. Nach einem Jahr hat sich der eitle junge Mensch verändert, hat jede Spur an Lieblichkeit und Fröhlichkeit eingebüßt. Was er aber wirklich verloren hat, darauf will Kleist wohl hinaus, ist seine Selbstsicherheit, sein Vertrauen, und damit das, was jeden Menschen, selbst wenn er nicht perfekt ist, ausmacht, die eigene Persönlichkeit, genauso, wie sie ist, das Natürliche seiner selbst, damit der Einklang zwischen Körper und Geist, Natur und Sein, Mensch und „Gott“. Diese Natürlichkeit ist nicht nachahmbar, nicht durch die perfekte, mechanisch gelenkte Marionette, nicht durch angeeignete Fähigkeiten und neue Strategien, nicht durch Techniken oder Kunstfertigkeiten, nicht durch den Blick in den Spiegel aller Äußerlichkeiten, nicht im Versuch, etwas Gegebenes ständig verbessern zu müssen und damit immer mehr zu verfälschen.

 

Mit der Erkenntnis, so Kleist, wich die Unschuld. Das, was der Mensch natürlich in sich fühlt, durchwandert nun den Verstand und wird aus seiner Leichtigkeit gerissen, um in verzweigten Labyrinthgedanken den Faden zu verlieren. So soll der Mensch danach streben, seine Unschuld zurückzuerlangen, nicht durch unnatürliche Versuche, sich selbst zu bestimmen, sondern im Loslassen seiner antrainierten Bewegungen als ein natürliches Zurückfallen auf sich selbst, um sich selbst zu spüren und führen zu können wie der Marionettenspieler seine Figuren. Es geht nicht um Vollkommenheit. Es geht alleine um das Mensch-Sein, den in jedem Menschen vorhandenen inneren Buddha zu beleben, denn die meisten leben vor sich hin, wie es Goethe formulierte:

 

"Wundersam eigen,
Die sich immerfort selbst erzeugen
Und niemals wissen, was sie sind."


(Goethe, Faust II)

 

 

 

"Konstrukt"




© Annelie Jagenholz