B L O G

oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Literatur-Entdeckungen 2018

Sonntag, 23. Dezember 2018 - in Literatur

Péter Nádas

"Liebe"

 

„Also ist der Wahn nichts anderes als ein ständiges Uneinssein mit der Zeit. Uneinssein mit der Gewissheit und dem Ungewissen.“

Was passiert wohl, wenn jemand unter Droge auf einmal nur noch „innere Landschaft“ ist, seinen Körper nicht mehr spürt, den Kontakt zur Außenwelt verliert, nur noch Wiederholungen erlebt, und nicht nur das, sondern darüber hinaus auch die Zeit stehenbleibt und die Momente in der falschen Reihenfolge ablaufen? Wenn man nicht mehr weiß, was wirklich und was Einbildung ist, was außen und was innen stattfindet, was jetzt geschieht oder längst vergangen ist?
Dann beginnt man, einiges zu hinterfragen, und diese Hinterfragungen sind im Grunde die philosophischen, die das Leben und Sein immer stellt und die so schwierig oder gar nicht zu beantworten sind. Dann hat man den Grenzbereich zwischen Wahn und Normalität erreicht. Hier zeigt die Erkenntnis, dass Zeit und Raum wichtige Stützen im Leben und für die Wahrnehmung sind, ohne die keine Handlung, kein Denken und kein Bewusstsein für das Ich möglich wären. Und das Werkzeug „Uhr“ ist noch lange kein Anhaltspunkt.

Die Zusammenfassung dieses Frühwerks ist schwierig, wenn wirklich die ganze Größe dieses Gedankenstroms erfasst werden soll. Das Grundgerüst dagegen ist einfach. Ein Mann besucht seine Geliebte mit dem Gedanken, sich von ihr zu trennen, widerruft die Idee jedoch und raucht mit ihr einen Joint. Was aber dann folgt, ist wahrlich etwas Außerordentliches, ein Sprung ins Innere, einen Trip und Horror-Trip, ja, auch das Abbild der Liebe, oder eher die Zerbrechlichkeit der echten Gefühle, aber mehr Rausch, Sturz, Wahn und Wiederkehr. Es ist die Begegnung mit sich selbst und mit den realen und imaginären Dingen, mit dem Willen als Vorstellung und der Hinterfragung der Wahrnehmung. Es ist eine sehr detaillierte Auseinandersetzung mit Zeit und Raum.

Etwas erinnert das Ganze kurzweilig an Henri Michaux und seine Versuche einer literarischen Darstellung im Rausch, nur ist Nádas Version wesentlich intensiver, so dass einem selbst fast das Hirn zu kreisen beginnt. Mehr und mehr wird man in diesen Sog mit hinein gerissen, in den auch der Erzähler fällt. Zwei Menschen frönen dem Cannabiskonsum (die Droge vielleicht sogar verharmlost?) und erleben die dazugehörigen verkürzten Eindrücke, schwebenden Momente, Ausdehnungen, … jenes In-sich-selbst-Fallen und Verschwinden, das Nichtunterscheiden von Wirklichkeit und Traum, von Ausgesprochenem und Gedachtem. Schön, wenn ein Lächeln in das Innere eindringt und sich dort ausbreitet, wenn Bewegungen auf das Wesentliche reduziert sind. - „Alles weitet sich, öffnet sich. Wenn ich es zulasse, weitet es sich ins Unendliche…“

Nach dem zweiten Joint setzt die Wirkung dann verstärkt und unaufhaltsam ein. Das Gespräch findet nur noch in Fragmenten statt, jeder taucht in seine eigene Welt ein, wobei diese sich stark unterscheiden, da die Frau den Joint besser verträgt als der Mann. Er will etwas sagen, muss lachen, das Lachen schlägt über seinem Kopf zusammen, kommt irgendwoher. Von außen. „… was ich sagen sollte, ist so sehr mit mir identisch geworden, dass es nicht mehr ausgesprochen zu werden braucht …“. Der Ablauf erfolgt in Wiederholungen, das Gespräch ist auf knappe Sätze verkürzt. Er verliert mehr und mehr den Bezug zu dem Miteinander, zur Wirklichkeit und verschwindet komplett im eigenen Kosmos.

Gut sichtbar wird die unterschiedliche Zeit des Erlebten. Während im Inneren und in Gedanken Dimensionen toben, passiert von außen fast nichts, außer dass die beiden Liebenden auf dem Bett liegen und sich umarmen oder später dann versuchen, mit der Situation klarzukommen. Die brachiale Gewalt der Gefühle bewirkt die gesamte Spannung des Buches, die Verwirrung zwischen Rausch, Schein und Perspektive, Fühlen und Nicht-Fühlen, die sogar auf den Balkon treibt, um zu springen …

Hinter den wirren Emotionen und dem Kampf um das Sich-Verlieren, Fliehen-Wollen und Nicht-mehr-Spüren steht der wirkliche Prozess verlorener Gefühle, die Unmöglichkeit, einander ganz zu erreichen und die Entfremdung zwischen beiden Liebenden. Jeder verschwindet in seiner eigenen Welt, die dem anderen verborgen bleibt, nur über Worte erreichbar ist, die zerplatzen. Das Vertrauen kehrt sich in Misstrauen, der Halt verliert sich am Selbstzweifel. Der Verlust von Wirklichkeit bedeutet Wahn, während der Geist in der Zeit den Körper überrennt.

Eine geniale Hinterfragung hat Péter Nádas hier versucht. Die Erzählung ist ein philosophischer Exkurs über Sein und Nicht-Sein, Zeit und Raum, Schein und Wirklichkeit, Wahn und Selbstverlust, die eigene Hölle und das Andere im Ich.
„Die Wirklichkeit", heißt es im Buch, "ist das endgültige System, in ihm wird man unmerklich von einer Wahrnehmung zur anderen weitergereicht.“
Doch diese oder in diese muss man erst einmal zurückfinden. Auch im Sprachfluss und Erzählten bietet Nádas (ähnlich wie Joyce stellenweise in „Ulysses“) eine Änderung der Geschwindigkeit, so dass der Leser den gesamten Rausch emotional miterleben kann. Und genau das ist Literatur.

 

 

(Alle Zitate aus Péter Nádas "Liebe", Rowohlt Verlag. Rezension: Annelie Jagenholz.)