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oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Gedanken zu dem Werk "Im Garten der sieben Dämmerungen"

Freitag, 6. April 2018 - in Literatur

Miquel de Palol

"Im Garten der sieben Dämmerungen"

 

Ein gutes Buch erfordert manchmal auch einen aufmerksameren Leser, und dieses stellt mitunter die höchsten Ansprüche. Für mich ist es eines der besten im experimentellen Bereich, das ich auch noch häufiger wiederlesen werde. Das Experiment gestattet dabei auch Spannung, Handlung und Unterhaltung, nicht nur literarischen Höhenflug.

Aus „Im Garten der sieben Dämmerungen“ haben sich schon einige bedient, z. B. erinnert der Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" frappierend genau an eine der im Roman enthaltenen Geschichten. Das liegt an der unglaublichen Vielfalt der Ideen, die Palol hier bietet, als hätte der Leser so auch die Chance, am Schöpfungsprozess und Einfallsreichtum des Schriftstellers selbst teilzuhaben. Die geklaute Geschichte ist allerdings nur ein winziges Stück aus dem großen Gesamt-Puzzle und trägt mit dazu bei, das Buch einzigartig zu machen, in Form, Stil, Aufbau und Kunst.

Es ist ein vielschichtiges Werk, ein wahrhaftiges Labyrinth, ein Abgrund, ein Architekturstück und ein Kalender. Es wünscht vom Leser, dass er mitdenkt und seine Aufmerksamkeit ganz auf das Buch konzentriert. Er darf nicht abschweifen oder überblättern, sonst verliert er den Faden, der sowieso schon recht dünn ist. Der Leser ist derjenige, der zusammenfügen muss, was zusammen gehört, der interpretieren darf oder einfach nur genießen kann.
Manche Sachen müssen entschlüsselt, gar berechnet werden. Der verschmitzte Autor verteilt nur winzige Hinweise, die nicht überlesen werden dürfen, die aber helfen, das Rätsel zu lösen. Sogar eine Schmetterlingsart kann Symbol für einen Charakter sein, der wiederum in der Deutung darauf verweist, wie vertrauenswürdig die Figur im Buch ist, mit der es der Leser zu tun bekommt.

Hier hat Palol ein experimentelles Meisterwerk konzipiert, das in viele Splitter zerteilt ist, wobei doch alles miteinander zusammenhängt und Sinn ergibt. Es ist ein Buch zum mehrmals lesen, das sich an der Tradition von Büchern orientiert, die Geschichten in Geschichten packen, von der "Odyssee" zu "Tausendundeiner Nacht" über Diderots Werke, Cervantes‘ "Don Quixote" bis zu Sternes "Tristram Shandy", Potockis "Die Handschrift von Saragossa", Cortazars "Rayuela", Pavics Meisterleistungen und ähnliches.

Bei Palol reihen sich aber nicht nur Geschichten aneinander, sondern wechseln die Dimension und Ebene auch tiefer, ist eine Geschichte die Basis für weitere ineinander verwobene, die wiederum den Erzähler oder Ausgangspunkt wechseln, um dann ganz unscheinbar wieder auf die höhere Ebene zu klettern und am Ende einen Kreis zum Anfang zu bilden, wobei hier nicht der Anfang des Buches gemeint ist, der trotzdem mit allem verbunden ist.
Die etlichen Geschichten sind Teil einer Unterhaltung, die Menschen führen, die etwas retten wollen, aber auch etwas zu verbergen haben, die wahrheitsliebend, erfinderisch oder manipulativ sind. Sie befinden sich in einer futuristischen Welt, die gleichzeitig sehr gegenwärtig wirkt. Die Welt ist zusammengebrochen, alle Gewohnheiten sind aufgehoben. Die Spannung ist vorprogrammiert.

Die wechselnden, ineinander verschachtelten Erzählstränge sind Fäden ein und desselben Knotens, der entwirrt werden muss und auch entwirrt werden kann. Die Geschichten können dabei so vielseitig sein, dass Jahrhunderte wechseln oder auch Realität und Fantasie, Echtzeit, Vergangenheit und Zukunft. Sie können näher zur Wahrheit führen oder nur Täuschung sein. Es kann sich um eine Szene und Geschichte handeln, die nur aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird und so ihr Gesicht ändert, da jede Sichtweise subjektiv ist. Selbst die Lüge hat einen Sinn, und die Illusion kann manchmal täuschend echt sein.
Manches wird nur als Verwirrung und Ablenkung beigesteuert, damit die Einheitlichkeit zersprengt wird und sich im Abwägen der erfahrenen Bedingungen das Echte herauskristallisiert. Trotzdem ist alles ein Verweis auf das Nächste oder bereits Gewesene. Schon der Beginn des Buches zeigt die gelungene Kontroverse über die gefundene Schrift „Im Garten der sieben Dämmerungen“, die nicht einmal mehr vollständig erhalten ist. Nachforschungen ergeben echte Gegebenheiten ebenso wie den Verdacht, dass es sich um eine Erfindung handeln könnte. Das Buch im Buch wird zum Wegweiser.

Der Leser gewöhnt sich daran erst im Laufe des Lesens, begreift mehr und mehr die Zusammenhänge. Manchmal ist es eben auch nötig, noch einmal zurückzublättern und die dortige Stelle auf ein Neues zu ergründen. Dadurch gewinnt dieses an sich schon dicke Buch noch einmal Raum und Zeit, und das wirklich im wahrsten Sinne des Wortes (ähnlich erlebt bei Cortazar, bei dem auch beliebig im Text gesprungen werden darf). Dass so ein Werk jemals enden könnte, scheint fast unmöglich, wie ein Spaziergang durch viele gute Romane, immer aber auch zurückgeworfen auf das eigentliche Geschehen, im Sprung vor und zurück, denn hier sprechen nur noch einige Überlebende miteinander, eine Art ausgewählte Elite, während vor der Tür ein entsetzlicher Krieg tobt. Das Erzählen ist damit gleichzeitig eine Überlebensstrategie und die Hoffnung auf Rettung.

Am Ende wird der Leser mit dem Lesen und Wiederlesen einzelner Stellen eine Erkenntnis gewonnen haben, und sei es eine eigene und individuelle. Denn das Buch ist ein offenes Kunstwerk (nach Eco), gestattet an jeder Stelle die Selbstreflexion und Deutung. Es enthält verstreute Brotkrumen und Hinweise, die besonders das Gedächtnis des Lesers herausfordern, genauso das Nachdenken und Rätselraten. Das Buch ist etwas für Leser, die eine Herausforderung suchen und bereit sind, alles zu hinterfragen.

Ausgangspunkt bleibt die zurückgelassene Schrift über den "Garten der sieben Dämmerungen", der auch wirklich existiert, gleichzeitig auch Symbol und Metapher ist. Ausgangspunkt bleibt auch immer das, was der Ich-Erzähler berichtet. Dieses Buch lässt sich nicht zusammenfassen und einseitig deuten. Dazu ist es zu vielschichtig und verspielt, bietet Schachbretter, mathematische Formeln, banale Kreuzworträtsel oder Lexikonverweise.
Es gestattet lediglich eine Reflexion und die Bestätigung darüber, dass die Dinge auch im echten Leben genauso wenig einseitig sind wie in dieser futuristischen Fiktion und nie nur eine einzige Frage gestellt werden kann. Es zeigt, dass immer etliche Wege und Möglichkeiten vorhanden sind und es an uns liegt, die jeweilige Entscheidung zu treffen.
Das alles drückt das Buch aus. Das Leben als nie endende Hinterfragung, als Innenbetrachtung, die immer verändert, das Außen und das Innen.
Der Aufbau entspricht dabei dem Gödel‘schen Unvollständigkeitssatz. Alles, was gesagt werden kann, hat seine Grenzen. Darin kann die Aussage nicht immer bewiesen und auch nicht immer widerlegt werden. Ganz wie das Leben selbst.