B L O G

oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Die Faszination "Dostojewski"

Dienstag, 8. Januar 2013 - in Literatur

Es gibt keinen Autor, der widersprüchlichere Meinungen über sich und sein Werk hervorrufen könnte, als es Dostojewski tut. Die einen halten ihn für einen Propheten, für einen großen Psychologen seiner Zeit, die anderen können mit ihm und dem Rasenden in seinen Zeilen, dem Gefühls-Überladenen oder der ewigen Suche nach Gott und Mensch überhaupt nichts anfangen. Das gilt nicht nur für das Heute, sondern war auch zu Dostojewskis Lebzeiten der Fall. Während sein Erstling "Arme Leute" Begeisterung hervorrief, wirkte sein beeindruckender "Doppelgänger" ganz anders und wurde von der Kritik (Belinskij und co) völlig zerrissen. Tatsächlich hat Dostojewskis Werk seine Höhen und Tiefen, glänzt durch Philosophie ebenso wie durch die Geschwätzigkeit seiner Figuren. Das aber unter diesen Dingen noch etwas anderes hervordrängt, das ist für mich unbestreitbar.

 

Wenn die Frage gestellt wird, weshalb viele Menschen, die eigentlich wissen, wo sie im Leben stehen, die "geistige Mühe" auf sich nehmen, ihn zu lesen, gerade in der heute aufgeklärten Zeit, wo diese großen Fragen der Menschheit fast unbedeutend scheinen, dann versuche ich für mich die Worte zu finden, die zusammenfassen könnten, weshalb mir sein Werk so bedeutend, so lieb, so unersetzlich ist. Dostojewski, welches Werk auch immer ich von ihm lese, bleibt in meinen Augen eine unveränderliche Größe, ein unglaublicher Schriftsteller, der weit über seine Zeit hinauswirkt. Um zu wissen, was es ist, das mich so fasziniert, musste ich tiefer in mich hineinhören und denke, ich habe eine Antwort gefunden.

 

 

Für mich ist Dostojewskis Werk weder schwierig noch kompliziert, weder unzugänglich noch zu gefühlsbetont. Es ist also keine Last, ihn zu lesen, sondern hat gerade mit jener bewussten und bestimmenden Lebensform zu tun, die ich für mich gefunden habe und die sich an den Zeilen Dostojewskis immer wieder aufs Neue stärkt und nährt, wie ein Dürstender in der Wüste.

Für mich stellt sich die Frage andersherum, wie es sein kann, dass jemand in Dostojewskis Werk nichts findet (was jetzt tatsächlich nur ein Erstaunen ist, kein Unverständnis per se). Für mich beinhaltet sein Werk etliche existentielle Dinge, nicht nur, durch das, was er schreibt, sondern bereits in der Auferstehung seiner Figuren und Gespräche, seiner Auffassung von der Welt, seinem Menschlich-Sein im Roman. Seine Hinterfragungen führen für mich viel weiter, als mir tatsächlich als geistige Hilfe dient oder auch nur dienen könnte. Es ist extremer, tief emotional, wie ein durch Dostojewski gelenkter Blick in den Spiegel und auf mich selbst, um zu sehen, wie ich selbst handele, denke, in der Welt agiere.

Die Fragen, die er stellt, die er ganz explizit an den Menschen richtet, unabhängig von der Zeit, erreichen mich ganz und gar. Es geschieht im Wirbel der Begegnungen, in der Hektik des Alltags so schnell, dass man viele innere Prozesse nicht weiter durchdenkt oder das, was man moralisches Handeln und Nächstenliebe nennt, ab und an vergisst, anzuwenden. Man gerät damit in ein einfaches IST und versucht, sein Leben zu meistern, vergisst darüber hinaus häufig, was alles dazu gehört, das Leben als Leben selbst wahrzunehmen. Für mich öffnet Dostojewski jene kurzzeitig festgefahrenen Momente und lässt mich erneut erfassen, wer ich bin und Rechenschaft darüber ablegen, wie ich handle, denke, fühle. Es ist also auch eine Art Reinigung.

Dostojewskis Zeilen berühren etwas, dass mich persönlich immer wieder dazu verleitet, die Dinge neu zu überdenken und enthalten stellenweise tiefe Grundwahrheiten, die mir kein anderer Autor aufdeckt. Das hat nicht so sehr mit seinen Themen selbst zu tun oder den Geschichten, die er erzählt, die für mich lediglich der Spannung und Erzählstruktur dienen sollen, aber im Grunde nicht wesentlich sind, sondern mit den Zwischenfrequenzen, die ich als Leser in seinen Zeilen wahrnehme. Alles dreht sich um das Menschlichsein. Alles hinterfragt, wie der Mensch in der Welt sein sollte, ohne dass Dostojewski Antworten hinwirft, um es dem Leser zu vereinfachen. Im Gegenteil zeigt er einfach so viele Perspektiven auf, dass der Leser genötigt ist, selbst zu denken, selbst zu erschließen, und wenn es gut läuft, auch den Blick allmählich auf sich selbst zu lenken. Die Zeit spielt ja tatsächlich keine Rolle. Ob vor tausend Jahren oder heute, die Grundtendenzen des menschlichen Handelns ändern sich nicht. Das Gute, das Schlechte im Menschen existiert nicht, nur das bewusste Denken und Handeln, denn wie man handelt, das kommt auf einen zurück, daran glaube ich fest. In einfachen Bedingungen ist ein Lächeln ein Lächeln, und schenkt man dieses, dann bekommt man es von irgendwoher zurück. Von wo, ist dabei völlig unwichtig. Von diesen kleinen Situationen kann man dann auch auf die größeren schließen. Man lenkt also auch die Begegnungen, nicht nur die eigenen Schritte. Vielleicht bedarf es hier einzig des Wahrnehmen-Wollens selbst.

Wenn ich Dostojewski lese, bleibt dabei bei mir etwas Gesammeltes zurück, wie es, von mir aus, ein Buddhist in seiner Meditation erfährt, wenn er den Kopf leert und danach zusieht, in der Welt nach buddhistischen Grundsätzen zu wirken. Ähnliches bewirkt Dostojewski eben bei mir. Daran heran reicht weder die umfangreiche und faszinierende Welt Tolstois, die mir dagegen fast oberflächlich erscheint, weder Turgenjews klarer Stil, noch überhaupt irgendein anderer Russe oder Schriftsteller. Die Faszination entwickelt sich vielleicht auch aufgrund des völligen Begreifen-Wollens und meiner eigenen Interpretation der Worte, die von Dostojewski möglicherweise anders gemeint waren. Sein Werk wärmt mich. Dazu seine Sprache, seine Gedanken, seine Monologe, die aus den Mündern seiner Figuren ertönen, all das ermöglicht es mir, wie kein anderes Werk, mich von ihnen vollkommen einnehmen zu lassen, sie geistig und emotional ganz und gar erfassen zu wollen und auch gar nicht anders zu können.

Für mich spielt z. B. weder Dostojewskis Hintergrund noch tatsächlich (im Endeffekt) er selbst eine Rolle, sondern alleine dieses Werk, das ich manchmal nur fassungslos bestaune. Hier geht es nicht um die Bestätigung von Gedanken oder um etwas Prophetisches, es geht nicht um eine Entwicklung oder geistige Stütze, es geht nicht um das Erforschen psychologischer Abgründe und Schrecken, es geht für mich alleine um diese ganz typische Dostojewski-Atmosphäre, die nicht erhaben ist, die nicht perfekt ist, die schon gar nicht belehren möchte. Vielleicht ist es gerade das, und dass ich den Menschen immer wieder ausmachen kann. Jede seiner Figuren ist einmalig und unverwechselbar, selbst wenn sie eine gleiche „Rolle“ erfüllen soll. Jede Figur wächst mir irgendwie ans Herz, ohne dass ich es erklären könnte.

Darum wird Dostojewski für mich immer ein Schriftsteller sein und bleiben, der mich ganz in seine Welt hineinziehen kann, so dass ich aus ihr verändert und tatsächlich besser im Fühlen und Denken hervorgehe. Kurz: Dostojewski ist mir ein Führer im Mensch-Sein, von dem ich durch die Ideale, die er aufzeigt, auch immer wieder für mich selbst die Erkenntnis darüber gewinne, wie ich bin, wie ich auf andere Menschen zugehe, wie ich es besser machen kann. Mag sein, dass das alleine bei mir in dieser Art und Weise stattfindet, aber dass es stattfindet, ist nun einmal der Fall. Er bessert mich innerlich und stärkt dann den Schritt in die Welt hinaus. Er ist so eine Art Selbstreinigung für mich, vereinfacht das Zugehen auf Menschen, stößt mich darauf, dass ich immer wieder neu überdenke, wonach ich strebe und wer ich bin. Kurz: ich gehe aus jedem seiner Werke gesättigt und wieder ganz hervor.

 

 

Mehr über Dostojewski an dieser Stelle.

 

 

© Annelie Jagenholz