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oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Das Café der Existenzialisten

Sonntag, 24. September 2017 - in Literatur

Gedanken zu Sarah Bakewells

„Das Café der Existenzialisten“

 

„Der Mensch ist sich immer einen Schritt voraus und erfindet sich erst im Verlauf des Weges, den er beschreitet.“

 

Ich habe selten ein Buch gelesen, dass so unterhaltsam, klar und informativ über den Existenzialismus und die Charaktere der involvierten Philosophen berichtet, dabei auch wichtige Denkanstöße gibt. Die gesamte Atmosphäre um Sartre, Beauvoir und co in den Pariser Cafés wird lebendig, das Erzählen reicht aber auch zurück auf die Vorreiter, darunter Kierkegaard, Husserl, Heidegger und viele andere.

 

Anschaulich berichtet Bakewell über die Entstehung einer so einprägsamen philosophischen Richtung, die ja eigentlich mehr eine Art Lebensweise, eine Existenz- und Seins-Bejahung ist, dabei eine Liebe zur Freiheit und zur freien Entscheidung in sich trägt (vor der sich auch viele fürchten). Frei ist man, wenn man eine Entscheidung trifft. Genau und vielleicht nur in diesem kurzen Moment.

 

Im Grunde wird der Mensch tatsächlich immer dann ernsthaft nachdenklich, wenn sein Leben aus den Spuren kippt, wenn er vor einer Entscheidung steht oder wenn er sich bewusst werden muss, wer er ist und was er will. Das kommt häufiger im Leben vor, als uns manchmal lieb ist und ist gleichzeitig der Punkt, an dem wir reifer werden, reflektieren können und sogar müssen, gerade weil wir selbst betroffen sind und nicht auf das Wissen von anderen zurückgreifen können. Die Entscheidung nimmt uns niemand ab. Wir können sogar entscheiden, uns nicht zu entscheiden, jedoch müssen wir uns damit auseinandersetzen.

 

Gleichzeitig bleiben solche Momente eine Art Grundtendenz des Seins, auf die bereits Heidegger hinwies, umgeben von Gewohnheiten und Anpassungsprozessen, von gesellschaftlichen Regeln und politischen Entwicklungen. Nach Heidegger gewinnt der Mensch nur durch solche Prozesse im Leben und durch das Bewusstmachen des „Seins zum Tode“ sein wahres und authentisches Selbst. Dem stimme ich zu, und ich kann in diesen Äußerungen kaum faschistische Züge entdecken, auch wenn ich verstanden habe, worauf Bakewell hinauswill, um Heidegger in seinem politischen Denken zu zeigen (als wäre das so einfach festzulegen). Ihre Meinung teile ich nicht, denn die Aussage ist verständlich und richtig, ob sie nun politisch geprägt oder etwas „metaphysischer“ ist.

 

Wäre der Mensch sich seiner Sterblichkeit nicht bewusst, würde er anders handeln, weniger riskieren, weniger Wünsche haben. Er würde sich wesentlich weniger weiterentwickeln und auch weniger den Blick auf sich selbst oder auf das Gewesene richten. Das ist, was Heidegger vermittelt und was ich in „Sein und Zeit“ aus dieser Aussage geschlussfolgert habe. In Bezug auf die Nazis wäre ein „wahres authentisches Selbst“ inmitten einer streng reglementierten und kontrollierten Politik (die das „Man-Selbst“ durch die Masse doch eigentlich totalitär prägt) auch eher nachteilig. Die "Selbstaufgabe" wäre hier doch vielmehr das Austreten aus dem vorgesetzten Sud.

 

Wenn Heidegger kein Plädoyer aus dieser „Entschlossenheit, sich den Anforderungen seiner Zeit zu stellen“ gegen diese Art der Gleichschaltung macht, so ist der Kern dennoch enthalten, denn die Aussage zielt in alle Richtungen ab, ist ja gerade der Schritt im Für und im Wider. Immerhin trifft jeder Mensch die Entscheidung für sich selbst, kann sich bewusst für oder gegen etwas einsetzen. Das tut er aber nur durch sein authentisches Selbst.

 

Laut Heidegger erfordert das Überwinden des „Mans“ immer das selbstständige Denken, alles andere wäre Scheinexistenz „fernab jeglicher Authentizität“. Auch die äußeren Umstände sind keine Ausrede; das schreibt Bakewell in den vorangegangen Seiten selbst. Das ist nichts anderes als Husserls "Verkrustung", die es ja auch gilt, aufzubrechen.

Das Chaos um Heideggers „Schwarze Hefte“ ist natürlich ein Teilaspekt des Ganzen. Eigenartig (und dann auch wieder nicht), wie der verborgene Mensch den öffentlichen verdrängt oder erneuert, wie sich ein ganzes Werk auf einmal neu oder im Sinne der neuen Erkenntnisse verändert und umdeuten lässt.

Das wiederum hat Heidegger ebenso erkannt, indem er sagte:

"Wer sich auf das Unterwegs zum Auftenhalt im Ältesten des Alten einläßt, wird sich der Notwendigkeit fügen, später anders verstanden zu werden, als er sich selbst zu verstehen meinte."

(Heidegger "Wegmarken")

 

Der gesamte Aufbau dieses Buches ist dennoch sehr gelungen, an einigen Stellen darf der Leser auch häufiger schmunzeln. Für mich war Bakewells „Café“ eine Bereicherung und gewährte einen unkomplizierten Blick auf viele Werke dieser Philosophen, die man zwar für sich längst erschlossen hat, die aber durch Bakewell wieder farbenfroh aufgefrischt werden, ebenso wie die Zeit ihrer Entstehung.

 

 

"Es gibt keinen vorgezeichneten Weg, der den Menschen zu seiner Rettung führt; er muss sich seinen Weg unablässig neu erfinden. Aber er ist frei, ihn zu erfinden, er ist verantwortlich, ohne Entschuldigung, und seine ganze Hoffnung liegt allein in ihm."

(Jean-Paul Sartre im Interview mit Christian Grisoli)

 

 

(Alle Zitate aus Sarah Bakewell "Das Café der Existenzialisten", C. H. Beck Verlag)