B L O G

oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

ἤθος ανθρώπῳ δαίμον

Sonntag, 24. Februar 2013 - in Philosophie


θος ανθρπ δαμον 


 

Alles kennt man schon. Alles weiß man schon, glaubt es, verinnerlicht. Das kann durchaus der Fall sein, allerdings gibt es im Leben immer wieder Phasen, in denen es hilfreich ist, sich erneut all dem zu stellen, was einen voranbringt oder belastet. Wie Heraklit es mit seinem „πάντα ῥεῖ“ formulierte, unterliegt das Leben beständigen Veränderungen. Den Blick immer wieder achtsam nicht nur in die Welt, sondern auch auf sich selbst zu richten, ist eine Notwendigkeit.

 

  • Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist. 

                                                                                                                                   (Robert Musil "Der Mann ohne Eigenschaften", S. 250, Rowohlt)

 

Wer mit sich im Reinen ist, kann in der Welt wirken, wird in ihr nie nur das Schlechte sehen, sondern das Leben und all das, was es ausmacht, schätzen und die für ihn geeignete Aufgabe darin finden.

 

Chögyam Trungpa zeigte anhand der Kriegerschaft der Shambhala-Lehre in seinem „Buch vom meditativen Leben“ auf, dass der Mensch in sich nicht nur Furcht, sondern auch das Potential der Furchtlosigkeit trägt, dass er das Recht hat, so zu sein, wie er ist und in der Welt eine bedingungslose Gastfreundschaft auf ihn wartet.

 

  • „Wenn wir aus der Shambhala-Lehre sagen, dass der Mensch im Grunde gut ist, so meinen wir, dass ihm alles mitgegeben ist, was er braucht, dass er es also nicht nötig hat zu kämpfen.“

 

Warum aber glaubt der Mensch, er müsse ständig (um etwas) kämpfen? Um seine Würde, um sein Ansehen (oder Aussehen), um seinen Besitz, Erfolg, gar um die Liebe? Um sich selbst, die Erfüllung seiner Träume und Wünsche, gegen andere? Dieser Drang bedeutet nichts anderes, als dass darunter nur eines wuchert: die Furcht. Sie hat viele Gesichter, drückt sich auch sehr vielseitig aus. Ob nun durch Aggression oder Nervosität, Selbstüberschätzung, Ruhelosigkeit oder Rückzug. Immer liegt dahinter eine einfache Bedingung: der Mensch achtet sich selbst nicht genügend, sondern schafft, wenn überhaupt, ein erträgliches „Ebenbild“.

 

Wirkliche innere Freiheit von den eigenen Wunschvorstellungen, Zweifeln, Sorgen und Vorspiegelungen ist alleine das Vertrauen in sich selbst. Jeder trägt die eigene Verantwortung dafür, wie sein Leben ist, ob es positiv oder negativ, leicht oder schwer ist. So sehr auch Gründe vorgeschoben werden, wo die Schuld anderswo zu suchen ist, so sehr führt, subtrahiert man die Ausreden und Ereignisse nach und nach, der Weg nur wieder zurück auf einen selbst. Wer sein Leben nicht als gut erachtet, kann nur einen Weg gehen: es ändern.

Was uns zumeist hindert, sind unsere Ängste und Befürchtungen. Sie lähmen nicht nur, sondern lassen uns auch etliche Gründe finden, weiter in dem zu verharren, was wir kennen, denn das Unbekannte schreckt uns zutiefst.  Das ändert aber nichts an den Tatsachen und die eigene Unzufriedenheit bleibt eine Bedingung.

 

Um sich seinem Wesen und den eigenen Ängsten bewusstzuwerden, muss man sie zunächst an der eigenen Handlung und den Gedanken wahrnehmen, das ewige Vibrieren akzeptieren. Hinter der Angst liegt als erstes Traurigkeit und hat man diese erfasst, kann man sich ihr stellen, sie akzeptieren, sie aus dem Körper spülen, indem man sich ihrer Sanftheit ergibt und zu einer ersten inneren Ruhe findet. Zunächst können Tränen rollen, Einsamkeit sichtbar werden, eine tiefe Sehnsucht oder ähnliche Bedingungen, die das Leben hin und wieder so mit sich bringt. Dies alles sind die ersten Schritte zur Furchtlosigkeit, denn weil wir die Furcht in uns tragen, tragen wir genauso das Potential der Furchtlosigkeit in uns (... nach den Worten Chögyam Trungpas). Wir müssen sie nur erwecken.

 

Die ersten Schritte hin zur Furchtlosigkeit sind noch nicht großartig. Sie umspielen uns nicht wie eine reine Symphonie und lassen das Herz erklingen. Aber dieses liegt auf einmal nackt und bloß, ist ganz das, was es sein soll. Das reine Fühlen und Erkennen, wer man selbst ist. Darin enthalten ist auch das Hinnehmen der eigenen Schwächen und Mängel, die zum Sein dazugehören, zu der Gestalt des Menschen. Dieser muss lernen, sich so zu nehmen, wie er ist und wertzuschätzen, dass er ist und was er an sich hat. Er muss lernen, die Welt als gut zu betrachten und in ihr und dem Leben das Gutsein, so dass er darüber hinaus auch sich selbst als gut empfindet oder dementsprechend in der Welt handelt bzw. auf diese zugeht.

Wer sich selbst nicht zu schätzen weiß oder überschätzt, der wird beständig seine eigenen Projektionen an Disharmonie und Zweifel auch auf andere übertragen und unglücklich sein, sowohl durch die Reaktionen als auch durch die eigene Unsicherheit, der Welt und den Menschen nicht gebührend begegnen zu können. Flucht ist eine der Maßnahmen, darunter auch Rückzug oder Ablenkung. All das aber bewirkt keine Lösung der Probleme, sondern verkapselt die Gefühle. Sobald der Gang in die Welt wieder Notwendigkeit wird, kommt wie ein Bumerang auch das so gefürchtete Erlebte zurückgeschleudert, denn es ist alleine die Reaktion auf die eigene, nicht immer bewusst empfundene Aktion. Man erhält zurück, was man ausstrahlt und eine ganze Umgebung formt sich nach der eigenen Einstellung zu dieser, alleine weil man glaubt, sie nach den inneren Empfindungen wahrzunehmen und zu deuten. Fühlt man sich nicht wohl, wird man jede Begegnung als unangenehm empfinden und diese auch als Bedrohung auffassen, damit mit dieser Furcht reagieren, so dass auch der andere wiederum auf die Reaktion reagiert. Ist man zufrieden, strahlt man auch dieses Gefühl aus und erntet das Lächeln, das man selbst schenkt. So formen wir unsere Umwelt. Ist das erkannt, ist man automatisch Träger seines Schicksals und lenkt seine Begegnungen auf seine Weise.

 

Heraklit sagte so schön:

 

ἤθος ανθρώπῳ δαίμον

 

Die Übersetzung dieses Satzes ist nicht einfach und schon gar nicht eindeutig, da sowohl das erste als auch letzte Wort zu Zeiten Heraklits immer beide Seiten einer Medaille enthielten. Ethos – als Art, Sitte, Gewohnheit und Daimon – als sowohl der innere Abgrund (Dämon) als auch das Göttliche (die inneren Qualitäten, Lebenslust, Ideen, Erhöhung) im Menschen stehen als Worte um die Mitte „Mensch“ herum. Grob übersetzt bedeutet diese Wortfolge dann in etwa:

Dem Menschen ist sein Wesen das Schicksal.

 

Für mich zeigt sich darin eine tiefe Wahrheit. Der Mensch ist sowohl seine eigene Trägheit als auch die eigene Rettung. Solange er in seinem alltäglichen Verhalten festsitzt, kann er sich selbst nicht entkommen, geschweige denn höhere Räume und damit neue Erkenntnisse entdecken. Öffnet er sich jedoch der inneren zweigeteilten "Wesenheit" (seinem inneren "Dämon" und der "Göttlichkeit"), akzeptiert sie und nutzt sie, wird er zu sich selbst finden.

 

Wittgenstein wiederum formulierte es über die Form:

 

  • „Dass das Leben problematisch ist, heißt, dass dein Leben nicht in die Form des Lebens passt. Du musst dann dein Leben verändern, und passt es in die Form, dann verschwindet das Problematische.“


(… zitiert aus Wittgenstein „Vermischte Schriften“)

 

Und das ist die Verantwortung, ohne die es nicht geht. Das Aufwachen, Bewusstwerden und Ändern eigener „Bestimmungen“.

 

Es ist also unabdingbar, sich hinzusetzen und über sich selbst zu reflektieren, wahrzunehmen, wieviel Würde darin liegt, still und einfach zu sein und mit dem nun offenen Herz der Welt zu begegnen, der man sich selbst zu öffnen wagt. Begegnungen können gespiegelt, Lachen mit Lachen, Traurigkeit mit Traurigkeit konfrontiert werden. Dadurch wird man den Dingen und Menschen gegenüber immer „wacher“. Alles, was man dann erlebt, wird schließlich nach und nach realer und auch normaler, der Alltag nicht mehr als Last empfunden, sondern als mit Humor zu tragendes Geschehen. Wer sich selbst anerkennt, achtet sich in jeder Lage, beginnt das Leben zu lieben und dankbar für alles zu sein. Und wer wiederum sich selbst nicht allzu wichtig nimmt, kann sich überhaupt ernst nehmen.

 

 

„Echten Humor erkennt man an seiner Leichtigkeit: Er walzt die Wirklichkeit nicht nieder, sondern begrüßt  und umspielt sie mit leichter Hand.
(…)
Als menschliche Wesen sind wir im Grunde wach und fähig, die Wirklichkeit zu begreifen. Wir sind keine Sklaven unserer Lebensumstände, wir sind frei. Frei sein heißt hier einfach, dass wir einen Körper und ein Bewusstsein haben und dass wir uns dazu aufraffen können, mit der Wirklichkeit würdevoll und voller Humor umzugehen. Wenn wir uns aufzurappeln beginnen, wird sich herausstellen, dass das ganze Universum – einschließlich der Jahreszeiten, einschließlich Eis und Schnee und Matsch – uns kraftvoll beisteht.
Das Leben ist tatsächlich zum Lachen, aber es macht sich nicht lustig über uns. Wir finden heraus, dass wir mit unserer Welt zurechtkommen können, dass wir vermögen, mit unserem Universum angemessen, uneingeschränkt und freudig umzugehen.“

 

(… zitiert aus Chögyam Trungpa „Das Buch vom meditativen Leben“)

 

 

 

 

 

 

 

© Annelie Jagenholz